Der Herbst-Ziegel

Seit 50 Jahren nährt der steirische herbst das kollektive Gedächtnis von Kunstinteressierten in Graz. Ein Buch zum Jubiläum des dienstältesten Mehrspartenfestival für zeitgenössische Kunst in Österreich und Umgebung erinnert an oft aufregende Veranstaltungen und Werke, und es gewährt Einblicke in den Geist der permanenten Selbsterneuerung, der das Festival seit 1968 antreibt.

Gleich wie etliche Kunstsparten – darunter die Literatur, die Neue Musik, die Malerei, die Konzeptkunst, der Jazz etc. – wurde der steirische herbst im Laufe seiner 50-jährigen Geschichte schon mehrfach totgesagt. Und er präsentiert sich (gleich wie besagte Kunstformen) lebendiger denn je. Denn das Festival bringt Jahr für Jahr frischen Wind in das zu provinzieller Selbstbeschränkung neigende Geistesleben von Graz – und zwar in Form von intelligenten Kunstproduktionen mit selbstauferlegtem Frischeanspruch. Davon kündet ein Buch, das 2017 zum 50. Festivaljubiläum vorgelegt wurde, ein echter Ziegel, der wahlweise in den Farben schwarz oder rot erhältlich ist. Über 400 Seiten Erinnerung an zeitgenössische Kunstprojekte aus fünf Dekaden, angereichert mit Wissenswertem, kuriosen Infos, „Lobhudeleien“ über die bisherigen Intendanten, Betrachtungen über die Festival-Programmatik im Wandel der Zeit sowie mit eigens für den „steirischen herbst 2017“ kommissionierten künstlerischen Arbeiten von Sonja Gangl, Peter Piller, Erwin Polanc und anderen.

Gegenprogramm zur Volkskultur

1968 in Graz vom konservativen Kulturpolitiker Hannes Koren als Gegenprogramm zur Volkskultur ins Leben gerufen, hat vermutlich kaum ein anderes Kulturereignis in Österreich das Selbstverständnis der regionalen Bevölkerung so herausgefordert wie der steirische herbst – wie man an den zahlreichen „Skandalen“ ermessen kann, die das Festival in seinen frühen Jahren in einer erzkonservativen Umgebung zwangsweise auslösen musste. Zum Skandal reichten schon die künstlerisch gestalteten Werbeplakate, auf dem z. B. 1972 das Foto eines korpulenten jungen Mannes mit Lederjacke abgebildet war, der sich die Hosen hochzieht (oder runterlässt?). Weitere Steine des öffentlichen Anstoßes unter anderem: Die Aufführung von Wolfgang Bauers Stück „Gespenster“ anno 1975 und Hans Haackes nachgebaute NS-Siegessäule im öffentlichen Raum 1988, als Österreich den Anschluss an Nazi-Deutschland anno 1938 aufarbeitete. Haackes Installation wurde von Neonazis abgefackelt.

(Keine) Skandale als Stein des Anstoßes

Während dem Festival in den frühen Jahren seine Skandale als unnötige Provokationen vorgehalten wurden, bemängelten etliche Besucher in den späteren Jahren die Abwesenheit von skandalerregenden Programmpunkten und warfen dem herbst vor, er sei in die Jahre gekommen, saturiert und damit überflüssig. Dabei sind es nur die gelangweilten Betrachter, die in die Jahre gekommen sind. Denn der steirische herbst ist seit jeher ein junges Festival. Es hat Graz seit seiner Gründung um mindestens 50 Jahre jünger gemacht. Wer das nicht erkennt, verkennt auch, dass der steirische herbst seit jeher ein Festival der Adoleszenz war und ist, ein Reibebaum der intellektuellen Selbstverortung künstlerisch interessierter junger Menschen. Das zeigt sich auch im vorliegenden herbst-Jubiläumsbuch, in dem sich – strukturiert nach den Sparten Musik, Theater, Literatur, Bildende Kunst, Architektur und Diskurs – viele, viele herbst-Protagonisten an ihre persönlichen herbst-Erweckungserlebnisse erinnern: Von prägenden Uraufführungen Neuer Musik im jährlichen musikprotokoll über spektakuläre Performances, wie beispielsweise das donnernde Gastspiel der Survival Research Laboratories anno 1992, bis hin zu richtungweisenden Ausstellungen und Interventionen im öffentlichen Raum, etwa Bill Fontanas Beschallung der Grazer Innenstadt 1988 mit Nebelhörnern und anderen irritierenden Lauten und Geräuschen vom Grazer Schlossberg aus.

Als Pressesprecher des Festivals konnte ich 1998 Christoph Schlingensief bei seinen „Sandlerfestspielen“ hautnah erleben. Filmstill, © steirischer herbst

Meine persönliche herbst-Reifezeit

Auch meine eigene Reifezeit ist eng mit dem herbst verbunden. 1989 beschimpfte ich als junger Journalist die Autoren des Literatursymposiums „weiterschreiben“ in einem Artikel in der verblichenen Neuen Zeit als „abstrakte Analphabeten“ und erhielt dafür im Gegenzug von den Organisatoren eine mediale Ohrfeige im Konkurrenzblatt verabreicht, von der mir noch Monate später der Kopf schwirrte. 1992 hatte ich bei der Uraufführung von Anselm Glücks Wir sind ein lebendes Beispiel in der Inszenierung durch Heinz Hartwig eine Offenbarung: Nie vorher und selten nachher sind mir auf der Bühne gesprochene poetische Sätze so nahe gegangen. 1994 machte ich als Lektor des Programmbuches erste Erfahrungen in Sachen Lektorat. 1997 und 98 erfüllte sich ein damaliger Berufstraum von mir, und ich konnte als Pressesprecher des Festivals so beeindruckende Produktionen wie die Sandlerfestspiele von Christoph Schlingensief begleiten. 2001 wechselte ich ins Kuratorenfach und programmierte gemeinsam mit Hannes Luxbacher und Andreas R. Peternell die vielbeachtete „Literaturbörse“: ein Online-Börsenspiel, bei dem mit literarischen Texten anstelle von Unternehmensaktien gehandelt wurde. Ein abschließendes Symposium reflektierte über die ökonomischen Hintergründe aktueller literarischer Produktion. Und 2003 schließlich kuratierte ich mit dem Mini-Literaturfestival Brennermania, das sich dem Phänomen der Brenner-Krimis von Wolf Haas widmete, die bis heute letzte echte Literaturschiene im steirischen herbst. An „Brennermania“, Schlingensief und Anselm Glück erinnert auch das herbst-Buch. An meine vorlaute jungjournalistische Entgleisung zum Glück nicht. Aber selbst wenn: Auch solche Konfrontationen und Extratouren auf geistigen Holzwegen bringen das Festival und seine Besucher weiter.

Dass ich die Veranstaltungen des steirischen herbsts seit 2005 eher nur sporadisch besuche, laste ich ihm nicht an. Ich bin älter geworden. Der herbst ist jung geblieben, und er wird, wie Dorian Gray dank seines alternden Abbildes, immer jung bleiben. Möge ihm die nächsten 50 Jahre dieses Kunststück weiterhin gelingen. Es verjüngt einen schon, im herbst-Jubiläumsbuch zu blättern.

herbstbuch 1968-2017. Hg. v. Martin Behr, Martin Gasser und Johanna Hierzegger. Graz: Styria Verlag 2017. 416 Seiten.

Link zum Archiv des steirischen herbst im Internet: http://archiv.steirischerherbst.at

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