Konzentrierter Affenzirkus

Eines der Ziele der Meditation ist es, den ungezügelten Gedankenstrom in ein ruhiges Gewässer zu überführen. Schön, wenn das gelingt, aber dafür ist jahrelange Übung in der kontemplativen Versenkung, auch bekannt als Meditation, notwendig. Ein Bild, das im Zusammenhang mit der Meditation gerne gebraucht wird, ist das der Gedanken als Horde sprunghafter Affen, die sich mal auf diesen, mal auf jenen Ast schwingen und dabei jedem Impuls folgen, der sich ihnen bietet. Wer selbst mal versucht hat, an Tagen, wo man mit irgendeinem Problem beschäftigt ist, zur Ruhe zu kommen, kann dieses Bild sehr gut verstehen. Wer es aber nicht kennt, der könnte es mit dem neuen Roman „Vaseline Buddha“ des südkoreanischen Psychologen und Schriftstellers Jung Young Moon versuchen: Es versetzt uns in die Lage, dem Gedankenstrom des Ich-Erzählers zu folgen, einem alter Ego des Autors, das viele biografische Erfahrungen und Vorlieben mit diesem teilt – darunter seinen starken Bezug zur modernen europäischen Literatur und seine exzessive Beschäftigung mit der philosophischen Problemlage der Wirklichkeitsabbildung durch die Sprache.

Jung lädt uns ein, in seinen Gedankenstrom einzusteigen. Der ist nicht so sprunghaft und profan wie jener der auf ihren Göttergatten Leopold Bloom wartenden Molly, sondern arabesk verästelt und entlang aller gedanklichen Möglichkeitsspintisierereien feinsinnig ausgesponnen. Das Thema ist das Erzählen selbst: das Buch, das man schreiben könnte, wenn man den Gedanken und Erinnerungen an dieses und jenes folgen würde. Und so begleiten wir den Denker beispielsweise in ein französisches Dorf, wo er eine Studienkollegin besuchen wollte, die ihn in ihr Elternhaus eingeladen hatte, aber dann, als er vor ihrer Tür stand, nichts mehr von ihm wissen wollte. Dass aus diesem missglückten Besuchsversuch für den Ich-Erzähler am Ende etwas Beglückendes wurde, weil er so Zeit gewann, durch das Dorf zu flanieren und sich angesichts der Natur über das Glück des Daseins bewusst zu werden – das hat etwas sehr Buddhistisches an sich. Es bezeugt nämlich den Wandel, den laut buddhistischer Lehre durch ihr Werden, Sein und Vergehen nicht nur alle Lebewesen erfahren, sondern der insbesondere auch unseren Gefühlen, Gedanken und Wünschen innewohnt.

Inwiefern der Koreaner Jung Young Moon in seinem Schreiben vom koreanischen Zen inspiriert ist, ist schwer zu beurteilen. Von seiner Sprache her und den sehr langen syntaktischen Ketten, die er beim beispielhaften Vor-Denken ausformuliert, ist er aber eher in der europäischen Literatur daheim. Nicht von ungefähr werden in „Vaseline Buddha“ nebst einigen anderen die Namen von Marcel Proust, Samuel Beckett und Thomas Bernhard erwähnt. Im Zentrum dieser Koordinaten stehen konzentriertes Abbilden komplexer Sachverhalte bei absoluter literarischer Vergegenwärtigung des Geschriebenen. Und darin besteht auch die Kunst des „Vaseline Buddha“: Unaufhörlich abzuschweifen und dabei gleichzeitig immer total präsent und konzentriert zu sein.

Allerdings ist es mit den Konzentraten oft so eine Sache: Unverdünnt sind viele nicht genießbar. Und so ist es nicht immer erbaulich, wenn sich lesenderweise der Affenzirkus im eigenen Kopf mit dem literarischen Affenzirkus von Jung Young Moon kreuzt, der von keiner tragenden Geschichte, keiner Handlung im konventionellen Sinn verfälscht wird. Ergo: „Vaseline Buddha“ sollte man ruhig langsam und konzentriert lesen. Der Buddha hat vor seiner Erleuchtung – der Erkenntnis, wie man das Leid des Daseins überwinden kann – immerhin sechs Jahre der Askese und Meditation gebraucht. Da kann man sich auch mit dem weich konturierten „Vaseline Buddha“ aus koreanischer Produktion gerne ein bisschen Zeit lassen.

Werner Schandor

Jung Young Moon: Vaseline Buddha. Aus dem Koreanischen von Jan Hendrik Dirks. Roman. Droschl: Graz – Wien 2015.
Die Besprechung erschien in Ausgabe 28 des Feuilletonmagazins schreibkraft.

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