Obsessive Bibliophilie

Was für ein Debüt! Der aus Köln stammende Autor, YouTuber und Literaturblogger Gunnar Kaiser (41) hat mit seinem ersten Roman, „Unter der Haut“, ein 520 Seiten starkes literarisches Schwergewicht vorgelegt, das bei der Lektüre Erinnerungen an die oberste Klasse von Bestsellererfolgen weckt.

Kaisers Buch ist opulent und gelehrt wie Umberto Ecos „Der Name der Rose“, von verstörender Schönheit wie Patrick Süskinds „Das Parfüm“ und rotzig-trotzig erzählt wie Philip Roths „Portnoys Beschwerden“. Dabei wirkt „Unter der Haut“ nie aufgesetzt, im Gegenteil: der eigenwillige Stilmix bildet ein stimmiges Ganzes.

Gunnar Kaiser entführt in seinem Roman in gruselige menschliche Abgründe, wo Schönes in Schreckliches umschlägt und Leidenschaft in Monstrosität. Im Zentrum steht eine zur Perversion ausgewachsene Liebe zu edlen Büchern, von denen die Hauptfigur, Josef Eisenstein, besessen ist. Wir lernen Eisenstein im Sommer 1969 aus der Perspektive eines jungen Literaturstudenten namens Jonathan Rosen kennen. Der studiert in New York lieber junge Frauen als die Literatur. Dabei macht er die Bekanntschaft mit Eisenstein, der den schüchternen Jüngling in der Kunst der Verführung unterrichtet und Jonathan das eigene Appartement für Schäferstunden zur Verfügung stellt. Einzige Bedingung: Jonathan muss Eisenstein erzählen, was er empfindet und erlebt, wenn er mit den Frauen schläft. Während er, Eisenstein, der Szene als Zuschauer beiwohnt.

Was Jonathan und Eisenstein verbindet, ist neben der Liebe zu schönen Büchern und der Verachtung für bürgerliche Konventionen vor allem der jüdisch-deutsche Hintergrund. Eisenstein ist Einwanderer aus Deutschland, Jonathan Sohn von deutschen Juden der Ostküste, die ihm allerdings kleinkariert und peinlich erscheinen. Ganz anders der New Yorker Lebemann, der den jungen Freund in die Upper Class einführt und ihm eine obskure Bibliothek zugänglich macht, die mit den seltensten und wertvollsten Büchern bestückt ist.

Starke Gegensätze

Wie jedes spannungsgeladene Buch arbeitet auch Gunnar Kaisers „Unter der Haut“ mit starken Gegensätzen. Und so steht der Erzählung von Jonathans Sommer der Liebe 1969 die Biografie des jungen Juden Josef Eisenstein in der Zwischenkriegszeit in Deutschland gegenüber. Der Sohn eines Sprachwissenschaftlers und einer Schauspielerin kommt in Weimar zur Welt und erfährt von seinen Eltern kaum Zuwendung. Später wird er zur Tante nach Berlin gebracht, die ihm ebenfalls kaum Beachtung schenkt. Auch von Gleichaltrigen wird Josef stets gemieden. Schon bald entdeckt der Heranwachsende seine Liebe zu schönen Büchern, die fast körperliches Begehren in ihm wecken. „Im Winter entdeckte er sie. […] Sie war schlank, zierlich fast, aber doch von gesundem Bau, dabei nicht starr oder knöchern, sondern biegsam. Ihr Körper war so wohlgeformt, und ihre Haut war weich, nachgiebig makellos, als wäre sie jung und unreif, niemals der Sonne ausgesetzt gewesen und nie von einem Fremden berührt. Im Dunkel des Ladens schillerte sie rötlich, matt und perlmuttern.“ – Die Rede ist von einer bibliophilen Ausgabe von Tacitus‘ „Germania“, Josefs erstem Objekt der Begierde.

Als die Nazis die Macht ergreifen, bleibt der junge Josef, den alle für den Sohn seiner arischen Tante halten, so unauffällig, dass er Bücher aus Antiquitätenläden und Bibliotheken stehlen kann, ohne dass er bemerkt wird. Der sonderliche Knabe beginnt eine Lehre bei einem begnadeten Buchrestaurator – und erfährt dort, dass es Bücher mit Eigenleben tatsächlich gibt. Sein Plan steht fortan fest: Er will das perfekte Buch erschaffen. Der Inhalt ist ihm gleichgültig, aber der Druck, die Bindung, das Papier und vor allem das Leder am Umschlag müssen vom Feinsten sein. Und zum Feinsten zählt für Josef: Menschenhaut. Genauer gesagt: die makellose Haut junger Frauen.

Fatale Obsession

Jeder, der eins und eins zusammenzählen kann, weiß, worauf diese Begierde hinausläuft, und was Josef Eisensteins perverse Vorliebe mit der Mordserie an jungen Frauen zu tun hat, die im ersten, 1969 spielenden Teil des Buches New York erschüttert. Es geht in „Unter der Haut“ aber weder eine Verbrecherjagd noch um das Psychogramm eines Mörders, sondern vielmehr um die Schilderung einer fatalen Obsession. Die Parallelen zu Patrick Süskinds „Parfum“, wo der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille  keinen Eigengeruch hat, aber größter Parfumeur aller Zeiten werden will, sind dabei unübersehbar. Josef Eisenstein bringt über die, die er einmal geliebt hat, nur Unglück. Daher liebt er nicht mehr und steckt seine ganze Leidenschaft in die Herstellung von perfekt gearbeiteten Büchern. Dass er dafür buchstäblich über Leichen geht, bekommt der naive Literaturstudent Jonathan im Jahr 1969 nicht mit.

Kapitel für Kapitel taucht man in „Unter der Haut“ tiefer in sehr unterschiedliche Welten ein: Zum einen die Metropole New York im Zeichen der sexuellen Befreiung auf dem Höhepunkt der Flower-Power-Ära; zum anderen die untergehende jüdische Welt Berlins im Dritten Reich. Gunnar Kaisers Schilderungen wirken da wie dort dreidimensional und lebendig – ebenso beeindruckend sind sein Wissen um die „Schwarze Kunst“ und seine Schilderung obskurer Sammlerkreise. Der Autor ist wortgewandt und stilsicher, und er begnügt sich bei seinem Debüt nicht mit kleinen Brötchen. „Unter der Haut“ taucht den Leser in ein Wechselbad der Gefühle. Nur selten – etwa bei der Charakterisierung von Eisensteins Helfer, einer Mischung aus Quasimodo und Silas, dem Killer aus „Sakrileg“ – trägt Kaiser etwas dick auf. Dennoch müsste das Buch, das bei der Piper-Tochter Berlin Verlag erschienen ist, auf den Bestsellerlisten ganz oben stehen. Ein Mysterium, dass dem nicht so ist.

Gunnar Kaiser: Unter der Haut. Roman. Berlin Verlag: Berlin 2018. 518 Seiten

Diese Buchbesprechung erschien am 14.7.2018 in der „Wiener Zeitung“

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