Das Wettlokal als Heimathafen

Der Wiener Autor Ilir Ferra entführt in seinem neuen Roman „Minus“ in die Kaschemmen des Un-Glücksspiels. Besprechung von Werner Schandor.

Wenn es einen Roman zum Glücksspiel in Wien braucht, dann könnte das „Minus“ von Ilir Ferra sein – vermutlich gibt kein anderes Buch einen besseren Einblick in den Kosmos Wettlokal als dieses. „Minus“ öffnet uns die Tür zu den rauchgeschwängerten Räumlichkeiten eines Wettcafés in der Wiener Niederhofstraße. Der Ich-Erzähler, der viele Parallelen zum 40-jährigen, aus Albanien stammenden Autor aufweist, versieht dort seinen Dienst als Einschreiber, das heißt er nimmt die Wetten der Spieler an und überträgt die Einsätze und Wettdetails ins Computersystem. Gewettet wird auf alles: Fußball und Basketball, Golf und Tennis, Hunderennen und Pferderennen, ja sogar auf jahrzehntealte Videos von Hunde- und Pferderennen, die von einem zentralen Computer willkürlich auf die Bildschirme gezaubert werden und die deshalb Computerrennen genannt werden. Die einzelnen Einsätze sind gering bis mittel – es geht von Cent-Beträgen an den Spielautomaten hinauf bis maximal 100 Euro pro Wette; die Verluste, die sich zusammenläppern, sind dennoch ansehnlich, denn fast ausnahmslos alle, die im Wettlokal verkehren, spielen so lange, bis sie zuerst den Boden unter den Füßen verlieren und am Ende hart aufschlagen, sodass jedes Leben aus ihnen entweicht, wie Ferra festhält: „[…] die Gesichter enthielten keinerlei Ausdruck. Es war nicht mehr klar, ob sie noch als Lebewesen zu betrachten waren. Ihr Lebensgefühl hing von dem Geld ab, das sie zum Spielen verwendeten, und wenn dieses fehlte, verwandelten sie sich in Gegenstände.“

Blick für die Menschen
Ilir Ferra geht es aber nicht um die Kritik am System, sondern vielmehr um die Menschen, die das Wettlokal der fiktiven Kette „BetOn“ bevölkern: In detailreichen Schilderungen beschreibt er einerseits die Spieler – vorwiegend Migranten aus Bosnien und Serbien sowie Flüchtlinge aus Tschetschenien und Nigeria – und andererseits die Beziehungen zwischen dem Ich-Erzähler und den Menschen im Lokal: die Freundschaft mit dem bankrotten Spieler Niko und mit dem Ex-Fußballprofi Bekim, mit dem es nach einer Verletzung bergab ging und der vor den Automaten abhängt, oder mit dem Kiffer Sertan, mit dem er sich während des Dienstes den einen oder anderen Joint reinzieht. Dann gibt es noch die Spannungen zwischen dem Erzähler und seinem zwielichtigen Kollegen Babel, der Opfer eines Überfalls wird, wo nie klar ist, ob er den nicht selbst angezettelt hat, sowie zum nigerianischen Großmaul Shaggy, der den Ich-Erzähler verbal bedroht. „Das waren alles sonderbare Gestalten. Aber je mehr Zeit du mit ihnen verbrachtest, umso normaler erschienen sie dir. Irgendwann merktest du, dass es nicht anders sein konnte, weil du derjenige warst, der ihnen mit jeder Sekunde ähnlicher wurde.“ – Damit ist auch der Handlungsverlauf des Buches angedeutet, sofern man bei diesem leichten Gefälle, das Ferra in kleinen Schritten beschreibt, von Handlung sprechen kann: Es geht bergab, hin vom vitalen Plus ins Minus der Spielerexistenz, die nur noch vor den Automaten und Bildschirmen auflebt.

Lust am Schreiben und Beschreiben
Der Ich-Erzähler will dem seelischen Niedergang entkommen, indem er schreibt und seine Notizen, die er während seiner Früh-, Abend- und Nachtdienste anfertigt, zu einem Buch zusammenstellt, dessen Entstehung man im Lauf des Romans beiwohnen kann. Er möchte Schriftsteller werden – wie der Autor: Ilir Ferra wurde 1974 in der Hafenstadt Durrës in Albanien geboren und lebt seit 1991 in Wien. Er ist Übersetzer für Englisch und Italienisch, hat 2008 den Preis „Schreiben zwischen den Kulturen“ gewonnen und seither auf Deutsch bereits zwei Prosabände und einen Roman veröffentlicht. Auch wenn die mit Reflexionen unterfütterten Beschreibungen in „Minus“ manchmal ins Leere laufen und Ferra sich die aus dem Rahmen fallenden Schilderungen der Kiffergelage in seinem Freundeskreis überhaupt hätte sparen können, zieht einen der Roman doch weitgehend in seinen Bann, denn der Autor lässt selbst in den kleinsten Details immer auch das große Ganze durchschimmern. Dadurch nehmen viele Passagen poetisch ordentlich Fahrt auf. Veranschaulichen lässt sich das an etlichen Beispielen – etwa an der Schilderung der Geste, mit der die Spieler nach einer verlorenen Wette ihre Tickets zerknüllen: „Der Zauber des Spiels verwandelte sich in einen Makel, der als körperlich empfunden wurde. Was als Spaß begonnen hatte, endete als Qual. Plus wurde Minus, die Illusionen zerstört. Die Beschaffenheit des Thermopapiers lud dazu ein, das Ticket zu zerknüllen. Die feierliche Entsorgung des Zettels war die einzige Entschädigung. Das Herz, als Zuflucht, blieb verschont. Dort sammelten sich zerbröckelte Hoffnungsreste und begannen sich neu zu formieren […].“
Was Ferras neues Buch „Minus“ auf jeden Fall vom aktuellen Literatur-Mainstream abhebt, ist die Lust am Schreiben und Beschreiben, mit der der Autor wirbelnde Impressionen aus den verrauchten Kaschemmen des (Un-)Glücksspiels schafft. Und er verdeutlicht, dass diese Lokale für die verlorenen Seelen der Spieler auch ein Heimathafen sind.

Ilir Ferra: Minus. Roman. Edition Atelier: Wien 2014. 447 Seiten.

Die Rezension erschien am 23.1.2015 in der Wochenendbeilage „Extra“ der Wiener Zeitung.

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