Über die delegierende Mehrzahl

Wenn eine Frau zu ihrem Mann Sätze sagt wie: „Wir sollten den Müll rausbringen“, dann kann man davon ausgehen, dass damit nicht wirklich eine Gemeinschaftsunternehmung angesprochen ist. Viel eher handelt es sich um einen unechten Plural, den man – analog zum Pluralis Majestatis – auch Pluralis Delegatis (Delegierender Plural) nennen könnte, und der auf die 2. Person Singular abzielt. Schließlich kommt hier eine an das Gegenüber adressierte Aufforderung im sprachlichen Gewand einer gemeinschaftlichen Aktivität daher. Ganz präzise müsste man übrigens von einem Pluralis Delegatis Uxoris sprechen, schließlich handelt es sich um eine rhetorische Figur, die zu 94,9 % von weiblichen Personen in Richtung ihrer Partner geäußert wird. Der umgekehrte Weg (Pluralis Delegatis Maritus) ist in freier Wildbahn eher seltener zu beobachten, hätte aber mit Sätzen wie „Wir sollten einen Kuchen backen“ und dergleichen durchaus seine Anwendungsgebiete.

Die SED und die Duzerei im Deutschen

Apropos „backen“: Der unechte Plural tendiert ja generell zur Altbackenheit, und zwar in seiner ganzen Bandbreite vom Pluralis Modestiae, der Bescheidenheit zum Ausdruck bringen soll („Das haben wir aber gut gemacht!“), über den insbesondere von altertümelnden Sachbuchautoren gerne verwendeten Pluralis Auctoris („Im Folgenden schildern wir die Formen des unechten Plurals“) bis hin zum bereits erwähnten Pluralis Majestatis. Dieser wurde von Kaisern und Königinnen verwendet, war aber auffälligerweise dem bevorzugten Grammatiklehrbuch der Grazer Germanistik der 1980er nicht bekannt, dem berühmt-berüchtigten „Helbig Buscha“. Kein Wunder, stammte dieses Grammatik-Werk (9. Auflage 1986) doch aus der DDR, und so erfuhr man darin nichts über die rhetorischen Gepflogenheiten von Kaisern und Königinnen, dafür aber, dass die vertrauliche Anredeform im Deutschen („du“) auch „in gesellschaftlichen Organisationen wie der FDJ und SED“ üblich war. – Und ich dachte immer, die um sich greifende Duzerei im Deutschen käme vom IKEA. Aber das nur nebenbei.

Die Freuden der Germanistik
Die Freuden der Germanistik

Wie auch immer. Die Autoren Gerhard Helbig und Joachim Buscha halten fest: „In bestimmten Sprachsituationen entspricht die 1. Person Pl. nicht immer ihrem Personen- und Numeruscharakter.“ (S. 252). Das haben Helbig Buscha gut, wenn auch nicht erschöpfend beobachtet, denn unter den drei aufgeführten Beispielen findet sich zwar das pädagogische Gespräch mit Kleinkindern („Wir werden so etwas nicht wieder tun, hörst du?“), es fehlt aber der delegierende Plural unter Erwachsenen.

Die letzte Passion des Pluralis Falsus

Da man heute mit Kindern schon ab dem Säuglingsalter lieber didaktisch diskutiert als sie diktatorisch zu dirigieren, ist diese Form des unechten Plurals ebenso vom Aussterben bedroht wie jene, die in der Medizin üblich war, wo das joviale „Wie geht es uns heute?“ (Pluralis Anamnesis) nicht mehr zur Standardbegrüßung einer Krankenvisite gehört.
Die letzte Bastion des unechten Plurals scheint tatsächlich in der durch die Blume formulierten Übertragung von Aufgaben zu liegen. Erfreuen wir uns also daran, wenn es das nächste Mal heißt: „Wir sollten den Rasen mähen.“

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