Am Anfang der Kugel

Nicht der Stern von Betlehem, sondern die Planetenreihe vom 5. Mai 2000 war der Zeitpunkt, von dem aus im frühen Mittelalter die Menschwerdung Christi berechnet und damit unsere Zeitrechnung festgelegt wurde, erklärt Sepp Rothwangl in seinem Buch „Endzeit“. Von Werner Schandor

Der obersteirische Forstwirt beschäftigt sich seit vier Jahrzehnten mit historischer Astronomie und antiken Kalenderberechnungen. Er publiziert und diskutiert seine als Laie gewonnenen Erkenntnisse in astronomischen Zeitschriften bzw. auf Kongressen. Für die astronomische Zeitzählung hat er sein eigenes Kalendermodell „CEP“ entworfen, das er kürzlich im akademischen Umfeld zur Diskussion stellte.

Ich habe Sepp Rothwangl 1999 kennengelernt, als sein erstes Buch „Sternstunde 2000. Countdown zum Jüngsten Tag“ erschienen ist, und habe ihn damals für das Magazin schreibkraft interviewt. Anlässlich seines jüngsten Werkes „Endzeit: Die Geschichte der christlichen Jahreszählung“ haben wir uns am 5. Mai 2016 wieder zum Gespräch getroffen – im angemessenen Rahmen des Grazer Schlosses Eggenberg. Das UNESCO-Weltkulturerbe mit seinen 4 Türmen, 12 Toren, 365 Fenstern und dem Planetensaal als Prunksaal ist im 17. Jahrhundert nach kalendarischen Gesichtspunkten errichtet worden. Ein idealer Ort, um über den Zusammenhang zwischen Planetenbeobachtung und Zeit zu sprechen. „Die Beschäftigung mit unserem Kalender und Zeitrechnungsmodellen hat so viele Facetten. Es ist wie eine Kugel, wo man den Anfang sucht,“ sagt Rothwangl.

Frage: Ich habe meinen Religionslehrer in der Schule einmal gefragt, warum der Jahreswechsel eigentlich auf den 31. Dezember und nicht auf den 25. Dezember fällt, wenn wir ab Christi Geburt zählen. Aber er hat die Frage nicht verstanden.

Sepp Rothwangl: Der 25. Dezember war ein kulturell wichtiger Tag im alten Rom. An diesem Tag wurden die Wintersonnenwende, die Saturnalien und die Geburt des Mithras gefeiert. Aber, und das ist auch das Spannende: Die Anno-Domini-Zählung sagt eigentlich, dass der 1. Tag des Jahres 1 Anno Domini auf den Frühlingsbeginn gefallen ist, und sie heißt auch „Anni ab incarnatione domini nostri Iesu Christi“. Das Fest der Inkarnation Jesu war der 25. März, also der damalige Frühlingspunkt. Heute heißt dieses Fest Maria Verkündigung.

Warum beginnt die Jahreszählung trotzdem im Jänner und nicht im März?

Das lunare Jahr im antiken Rom begann vermutlich im März, denn unsere Monatsnamen September, Oktober, November, Dezember – der Siebte, Achte, Neunte, Zehnte – ergeben ja nur einen Sinn, wenn man mit dem März zu zählen beginnt. Die Verlegung des Jahresbeginns auf den Januar geschah 153 vor Christus. Julius Cäsar hat dann im Jahr 46 vor Christus statt des Mondkalenders, der Schaltmonate aufwies, den Sonnenkalender eingeführt. Und um diesen neuen Kalender genau im Anschluss an den alten Mondkalender zu beginnen, wurde am Ende des damaligen Mondkalenders der 1. Tag des neuen Sonnenkalenders angesetzt. Nun ist der alte Mondkalender an einem Neumond ausgelaufen, und dieser Neumond ist in jenem Jahr 10 Tage nach der Wintersonnenwende eingetreten. Und das ist vermutlich der Grund, warum das neue Jahr nicht am Tag nach der Wintersonnenwende beginnt, sondern 10 Tage später. Dieser Mondstand im Jahr 46 v. Chr. ist aus meiner Sicht die Ursache, warum wir den Jahresbeginn nicht an einem Kardinalspunkt des astronomischen Jahres haben.

In „Endzeit“ schreibst du, dass die christliche Jahreszählung nicht vom Anfang her festgelegt wurde, sondern von einem Ende. Wie ist es dazu gekommen?

Schon in der Spätantike gibt es eine Fülle von Berechnungen, wann Jesus geboren worden sein könnte. Die Angaben differieren in einem Zeitrahmen von bis zu 15 Jahren vor bzw. nach Anno Domini. Die frühen Christen verwendeten anfangs die Anno-Mundi-Zählung, also die Zählung der Zeit ab Erschaffung der Welt, nach der sich auch die Juden richteten. Für die christliche Welt wurde Anno Mundi im 3. Jahrhundert vom Chronisten Sextus Iulius Africanus eingeführt. Seinen Berechnungen zufolge wurde Jesus im Jahr 5500 seit Erschaffung der Welt geboren. Der Haken daran: Das Jahr 6000 war mit Weltuntergangsprophezeiungen verknüpft. Und als dieser Zeitpunkt näher rückte, gab es mehrere Versuche, dieses Datum abzuwenden. Einer davon war die Einführung von Anno Domini, die Jahreszählung ab der Fleischwerdung Christi, ein Vorschlag, dem der Gelehrte Beda Venerabilis in der Schrift „De temporum ratione“ (Über das Wesen der Zeit) im 8. Jahrhundert zum Durchbruch verhalf.

Hat Beda dieses Modell entwickelt?

Nein. Der Urheber der Zeitrechnung Anno Domini war Dionysius Exiguus, der von 470 bis 540 lebte und dem das griechisch-antike Weltbilds sehr vertraut war. Diesem Weltbild zufolge begann der Anfang der Welt mit einer Konjunktion aller Planeten: Da begann die Zeit zu laufen. Im alten Griechenland glaubte man, dass, wenn diese Planetenkonjunktion wieder eintritt, ein neues Rad beginnt und die Zeit von vorne anfängt. In der christlichen Vorstellung ist jedoch der Weltenlauf mit diesem Punkt zu Ende. Bischof Nemesios von Emesa beschrieb im 5. Jahrhundert, dass der Anfang der Welt der Zeitpunkt war, als Sonne, Mond und alle Planeten zusammengekommen sind. „Und wenn das wieder eintritt, sagen sie – die Griechen –, es werde wieder einen Aristoteles, einen Plato und so weiter geben. Aber da irren sie, denn die Christen sagen: Das gibt es nur einmal.“ Nemesios ist also der Überzeugung, es werde kein neues Rad geben, sondern wenn diese Konjunktion der Planeten wieder auftritt, dann ist die Zeit zu Ende. – Das war einer der Einflüsse bei der Anno-Domini-Berechnung: Die Suche nach dem Ende der Welt, das bei der Konjunktion aller Planeten eintreten wird.

Welche Konjunktion hat Dionysius Exiguus als Endpunkt ausgemacht?

Es war die Planetenreihe vom 5. Mai 2000, bei der alle in der Antike bekannten Planeten mit Erde, Sonne und Mond in einer Linie standen. Wenn ich vom Zeitpunkt dieser Konjunktion 2000 Jahre abziehe, so bin ich genau bei 1 Anno Domini. 2000 Jahre hat Exiguus deshalb genommen, weil dies der Zeitraum war, den man im Mittelalter für die Dauer des Sternzeichens Fische als Frühlingspunkt errechnet hatte. Durch die Kreiselbewegung der Erde – die Ursache der Präzession – verschiebt sich der Frühlingspunkt im Zeitrahmen von rund 2160 Jahren um etwa 30 Grad. Das heißt das Sternbild, das unmittelbar am Frühlingstag im Morgenhimmel steht, ändert sich: Vor ca. 6000 Jahren war der Stier das Frühlingssternbild, vor etwa 4000 Jahren war das der Widder, vor 2000 Jahren war dort das Sternbild Fische, und jetzt steht dort schon der Wassermann. Wenn man die alten Hochkulturen der Menschen betrachtet, dann erkennt man, dass dieses Frühlingssternbild immer einen enormen Einfluss auf Kultur und Symbolik gehabt hat: Vom Stierkult der Minoischen Kultur über den Widderkult der Ägypter bis hin zum Fische-Symbol, das sich die ersten Christen sozusagen als New-Age-Zeichen angeeignet haben.

Die von Exiguus vorausberechnete Planetenkonjunktion vom 5. Mai 2000 und seine Berechnung, wann das Sternbild Fische zum Frühlingspunkt wurde, ist aus meiner Sicht der Hintergrund für die Anno-Domini-Festlegung. Aus diesem Grund weicht seine Berechnung auch von allen anderen Datierungen von Christi Geburt ab, die es damals gab.

Sepp Rothwangl im Schloss Eggenberg vor der Linse von Harry Schiffer

Sepp Rothwangl im Schloss Eggenberg vor der Linse von Harry Schiffer

Nach den Vorstellungen der frühen Christen leben wir also in der postapokalyptischen Zeit?

Wenn man es frühchristlich sieht, ist die Apokalypse hinter uns. Oder wir leben gerade drinnen.

Die berühmteste Beschreibung der Apokalypse stammt aus den Offenbarungen des Johannes. In deinem Buch deutest du dessen „Zahl des Tieres“ 666 ebenfalls auf astronomische Weise.

Auch diese Zahl hat meiner Meinung nach mit der Präzession zu tun: der Richtungsänderung der Erdachse durch die Kreiselbewegung der Erde. Im gesamten Mittelalter haben die arabischen und jüdischen Astronomen die Präzession mit einem Wert von 2000 Jahren pro 30° gerechnet. Und jedes Sternbild, durch das der Frühlingspunkt innerhalb von rund 2000 Jahren wandert, ist in 3 Dekane unterteilt, die in alten Kalendern als Personen dargestellt worden sind. In der Offenbarung heißt es: „Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist 666.” – 2000 durch 3 ist 666. Die apokalyptische Zahl 666 bezieht sich auf die Jahre der Präzessionsdauer pro Dekan von 10° und beschreibt, wann das Zeitalter des Sternbilds Fische zu Ende geht.

Die Astronomie hat schon immer einen erstaunlichen Eindruck auf die Menschen gemacht. Einerseits sind viele alte Kultstätten auf bestimmte Sterne bzw. auf Sonnwendtage oder die Tag-und-Nacht-Gleiche ausgerichtet. Und andererseits glauben die Menschen vielfach noch heute, dass die Erde untergeht, wenn eine Epoche endet, so wie das mit dem Maya-Kalender im Dezember 2012 war. – Woher kommt das?

Ich glaube, das kommt daher, dass sich Menschen, die sich nicht genau damit beschäftigen, Zeit mit Zeitrechnung gleichsetzen. Die Zeit rechnen wir nun einmal nach dem Lauf der Erde und der Himmelskörper. Und wenn man simpel denkt, dann glaubt man vielleicht, die Himmelskörper verursachen die Zeit. Und so ist es ja auch in der Bibel und in vielen Schöpfungsgeschichten beschrieben, dass der Lauf der Planeten die Zeit hervorbringt. Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. Aber messen kann man die Zeit natürlich auf diese Weise.

Auszug aus einem Interview, das ich für die Wiener Zeitung mit Sepp Rothwangl führte, es erschien am 24.12.2016

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