Strukturelle Medienschieflage II

Wenn der Kultursender Ö1 einer Frau mit ausländischen Wurzeln nicht glaubt, dass sie in Wien noch nie blöd angeredet wurde, und wenn das Nachrichtenmagazin „profil“ null bei Amtshandlungen getötete Afrikaner in den letzten 15 Jahren als Beleg für den Rassismus der Exekutive nimmt, dann zeigt sich, mit welchen Problemen der deutschsprachige Journalismus in Wahrheit zu kämpfen hat.

Robert Musil meinte vor rund 100 Jahren, das Theater sei das dümmste Gebiet der Dichtung, wenn nicht von ganz Mitteleuropa, weil es nichts als Klischees produziere und reproduziere. Heute übernehmen die klassischen Medien die Rolle der Bühne: Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen geben sich einen offiziösen Anstrich und behaupten, ihre Themen seriös zu recherchieren. Aber zunehmend produzieren und reproduzieren sie nichts als Klischees. Das ist nicht nur bei der einseitigen Betrachtung von Genderthemen der Fall, sondern auch, wenn andere Gesellschaftsfragen verhandelt werden. Konkret: Das Thema Rassismus gegen Schwarze in Österreich und Deutschland.

In Deutschland leben das laut Statistischem Bundesamt rund 1 Million Personen mit afrikanischen Wurzeln (inkl. nordafrikanische Staaten), das sind rund 1,2 % der Bevölkerung. Ähnlich dürfte das Verhältnis in Österreich sein. Menschen mit schwarzer Hautfarbe standen im Frühsommer 2020 wochenlang im Zentrum des medialen Interesses, nachdem ein Schwarzer ermordet worden war – in den USA. Nach dem brutalen Mord am Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten Ende Mai 2020 in Minneapolis wurde unter dem Hashtag „BlackLivesMatter“ der neue Anti/Rassismus zum Quotenbringer.

Auf der Suche nach dem Rassismus

Mit großer Selbstverständlichkeit hat man den Mord in Minnesota aufgrund der Hautfarben von Täter und Opfer als rassistisches Verbrechen gedeutet. Die Tat sei kennzeichnend für den „strukturellen Rassismus“ nicht nur der USA, sondern der ganzen westlichen Welt, hieß es unisono. Das Thema wurde in deutschsprachigen Medien rauf und runter gespielt. Eifrig hat man in der Folge jener Unruhen, die #BlackLivesMatter in den USA auslöste, in Österreich und Deutschland Indizien für den ominösen „strukturellen Rassismus“ bei der Polizei und darüber hinaus gefunden.

Die „Frankfurter Rundschau“ etwa hat im Artikel „Polizeigewalt und Rassismus in Deutschland“ ganze neun bei Polizei-Amtshandlungen bzw. in Gewahrsam verstorbene Schwarze in Deutschland recherchiert und dabei zusätzlich noch je einen Afghanen, Syrer und Iraker in die Liste der Opfer aufgenommen, warum auch immer. In den 12 Toten durch Polizeigewalt hat die Autorin des Artikels ein klares Indiz für den bestehenden Rassismus in Deutschland gesehen. Allerdings musste sie dafür die Archive der letzten 20 Jahre ausheben. 12 Tote in 20 Jahren. Das sind 12 zu viel. Aber lassen diese 12 Toten schon eine „strukturelle“ Schieflage erkennen? Zum Vergleich: Wikipedia listet für diesen Zeitraum insgesamt 165 Menschen auf, die von der deutschen Polizei bei Einsätzen erschossen wurden. [1] Im selben Zeitraum starben hochgerechnet ca. 400 Menschen in Deutschland nach Bienenstichen. In Österreich kamen in den letzten 20 Jahren über 13.000 Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Und in den USA starben von Jänner 2000 bis Juni 2020 mehr als 28.000 Menschen durch Polizeigewalt, davon mindestens 6.400 Schwarze. Demgegenüber ist die Zahl der dunkelhäutigen Polizeigewalt-Todesopfer in Deutschland so klein, dass sie statistisch nicht aussagekräftig ist.

Seriös betrachtet, kann man bei einer Bevölkerung von über 80 Millionen Menschen 12 Tote in 20 Jahren nicht als Beweis für die Tragweite oder das Ausmaß eines „strukturellen Rassismus“ heranziehen, unter dem „People of Color“ in der Bundesrepublik zu leiden hätten. Und man hätte auch spätestens hier einhalten und erkennen müssen, dass die USA und Deutschland bzw. Österreich weder geschichtlich noch von ihrer Demografie noch von der sozialen Ausrichtung her vergleichbar sind, dass man also die Diagnose für ein evidentes US-Problem nicht so ohneweiters auf die deutschsprachigen EU-Länder übertragen kann. Aber diese Unterschiede wurden ignoriert oder überspielt.

Null Tote in 15 Jahren als Beleg für ein Rassismusproblem?

Noch krasser verfuhr das Wiener Nachrichtenmagazin „profil“ im Artikel Tödliche Polizeigewalt auch in Österreich. Es gab allerdings nicht Aktuelles zu berichten, denn wie aus der Chronologie hervorgeht, datiert der letzte österreichische Fall von „tödlicher Polizeigewalt“ gegen einen Schwarzen aus dem Jahr 2005. Im Zuge von #BlackLivesMatter wurde im „profil“-Artikel suggeriert, die tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze sei „nicht nur ein Problem der USA“, sondern auch in Österreich.

Null Tote in 15 Jahren als Beweis für ein Rassismusproblem? Und das ganz im Ernst. Nach derselben Logik, mit der Archivmeldungen zu einer falschen Gegenwartsbehauptung hingebogen wurden, könnte man auch 15 Jahre alte Landesregierungsbeschlüsse aus Kärnten zitieren und behaupten, Jörg Haider lebe noch. Und spätestens dann wäre klar: Der „profil“-Artikel belegt weniger ein Rassismusproblem als viel eher ein Journalismusproblem. Angesichts der Zahlen wäre ein Bericht darüber angemessener gewesen, was sich seit 2006 bei der österreichischen Polizei getan hat, dass in 15 Jahren kein Schwarzer mehr bei Polizeiaktionen bzw. in Haft starb, während in den Jahren 1998 bis 2005 erschreckenderweise acht Afrikaner ums Leben gekommen waren. Dass es seit Jahren keine tödlichen Übergriffe mehr gegeben hat, passte offensichtlich nicht ins Erzählschema.

Leider Alltag: der mediale Meinungsdrall

Ein ähnliches Denken kam im Juli 2020 bei der Radiosendung „Leider Alltag: Rassismus in Österreich“ auf Ö1 zum Ausdruck. Hier berichteten in Wien lebende Menschen mit ausländischem Aussehen über ihre Erfahrungen der Ausgrenzung. Diese beginnt nach Ansicht der Moderatorin schon dabei, wenn man aufgrund eines Akzents beim Sprechen nach dem Herkunftsland gefragt wird. Auf die Idee, dass man sein Gegenüber ungeachtet der Hautfarbe nach dem Herkunftsort oder -land fragt, weil es einen geografisch interessiert, ist anscheinend noch keiner gekommen. Oder dass man fragt, weil man Sympathien für die Weltgegend hat, in der man die Herkunft des Gegenübers vermutet – egal, ob es sich ums Mostviertel, Siebenbürgen oder Äthiopiens Hochland handelt.

Ebenso scheint es undenkbar, dass man Menschen auf der Straße – ob schwarz, weiß oder gescheckt – manchmal länger ansieht, weil man sie schön oder interessant findet. Jedenfalls: Als gegen Ende der Sendung „Leider Alltag: Rassismus in Österreich“ eine fröhlich klingende Bäckerei-Verkäuferin erklärte, sie sei aufgrund ihres Akzents und Aussehens in Wien noch nie blöd angeredet worden, knüpft die Sendungsmacherin halb beschwichtigend, halb herablassend den Kommentar daran: „Frau XY will noch nie Rassismuserfahrungen gemacht haben“ – so als ob den Wahrnehmungen der Frau nicht zu trauen sei, weil nicht sein könne, was nicht sein dürfe.

Einheimische allesamt Rassisten

Ebenfalls ausgeklammert blieb in dieser und der Nachfolgesendung, dass zu all den rassistischen Erfahrungen, die Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund bei uns machen müssen, es im mindestens selben Ausmaß auch die gegenteiligen Erfahrungen gibt: solche der Empathie, der Hilfsbereitschaft, der Menschlichkeit über alle Unterschiede hinweg. Und dass diese solidarischen Zugänge über Institutionen wie die Caritas und verschiedenste Vereine sogar ein „strukturell“ wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Aber solche Erzählungen befanden sich im Windschatten des US-Rassismusdebatte anscheinend außer Sichtweite der Medienmacher. Irgendwie schien es nur um den Beweis zu gehen, dass alle Einheimischen irgendwo Rassisten sind.

Ausschaltimpulse häufen sich

Dass viele der um Seriosität bemühten Medien, darunter auch öffentlich-rechtliche, selbst nicht zu erkennen scheinen, wie sie aus den besten Absichten heraus ihre Themen zunehmend mit einem Meinungsdrall versehen und ihre Berichterstattung immer klischeehafter ausfällt, kann man auch kreativ nutzen. Im Gespräch mit der Verlegerin Mona Müry erwähnte Ö1-Moderator Helmut Jasbar Anfang Mai 2021 einen Freund, der seinen Radiowecker auf Ö1 gestellt hat: Wenn sich das Radio einschalte, bleibe er noch im Bett liegen. Sobald aber im Programm ein Begriff wie „Gender“, „Identität“ oder „Rassismus“ falle, stehe er auf und schalte den Apparat ab. So komme er jetzt immer recht schnell aus dem Bett.

Entkoppelte Diskussionen

Als ich Mitte Juni 2021 an der Endfassung dieses Artikels schrieb, präsentierte die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine Studie des renommierten Allensbacher Demoskopie-Instituts IfD. Ergebnis: „Es spricht einiges dafür, dass sich die intellektuellen Diskussionen um solche Themen [politische Korrektheit, Genderdeutsch, Cancel Culture] – einschließlich der Diskussionen in maßgeblichen Massenmedien – teilweise von der Lebenswirklichkeit der Bürger entkoppelt haben“, schreibt Studienautor Thomas Petersen in der F.A.Z. vom 16. Juni 2021. Und er kommt zum Schluss: „Für die beteiligten Medien ist es problematisch, weil Zuspruch und Glaubwürdigkeit in Gefahr sind. Und auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich sprachlich gängeln zu lassen, ist nicht grenzenlos.“

Auch meine Bereitschaft, den ehemaligen Medien des Vertrauens weiter das Vertrauen zu schenken, hat sich deutlich eingetrübt. Einerseits, weil der redaktionelle Faktencheck immer öfter am Medienkonsumenten hängenbleibt. Und andererseits, weil es mir wie dem Freund des Moderators Helmut Jasbar geht: Sobald einseitig von Genderthemen die Rede ist oder die Phrasen der amerikanischen „Critical Race Theory“ durchklingen, lege ich die Zeitung weg und schalte das Radio ab. Schließlich will ich informiert werden, nicht sozialpädagogisch anagitiert.

PS: Wenn die UNO in Andorra nach strukturellem Rassismus fragt

Am 28. Juni 2021 veröffentlichte ORF.at einen Artikel mit dem Titel UNO-Bericht: Struktureller Rassismus gang und gäbe. Im Untertitel steht: „In Ländern vor allem in Europa und in Nord- und Lateinamerika würden Schwarze durch Polizei und Ämter, Gesetze, Verordnungen und Geisteshaltung nach wie vor systematisch benachteiligt.“ Im Text wird die Forderung der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet nach „konsequenter Aufarbeitung von Rassismus und Sklaverei“ wiedergegeben. Erneut wird der Rassismusvorwurf mit der Gießkanne über immerhin drei Kontinente verteilt, ohne auch nur im Ansatz zu differenzieren. Und erneut erweckt der ORF-Bericht den Eindruck, dass Österreich ebenfalls an einem akuten Rassismus-Problem laboriere. Dazu wurde großzügig aus der Presseaussendung von Michelle Bachelet zitiert, der eigentliche UN-Bericht allerdings nicht erwähnt. Der hatte den sperrigen Titel „Promotion and protection of the human rights and fundamental freedoms of Africans and of people of African descent against excessive use of force and other human rights violations by law enforcement officers“ („Förderung und Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte von Afrikanern und Menschen afrikanischer Abstammung gegen den exzessiven Gebrauch von Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen durch die Exekutive“). Wer hier aufmerksam liest, merkt, es geht um Polizeigewalt. Und wo da der ORF ein Problem sieht, das in Österreich gleich akut sein soll wie in den USA und anderen Ländern, das würde mich interessieren.

Noch interessanter ist die Datengrundlage des UN-Berichts: Die allgemeinen Aussagen über den weltweiten Rassismus gegen Schwarze basieren auf 110 Beiträgen („contributions“) aus folgenden Ländern: Algerien, Andorra (!), Argentinien, Bolivien, Costa Rica, Finnland, Guatemala, Mexiko, Schweden, Ukraine, USA und Zypern. Ein paar nicht unwesentliche europäische Länder fehlen, aber dafür sind ja Andorra, Zypern und Finnland an Bord. Zudem wurden in 23 Online-Meetings ganze 340 Schwarze in Amerika und Europa befragt (davon 65 % Frauen, wie eine Fußnote stolz vermerkt). Dieses Vorgehen scheint der UNO-Menschenrechtskommissarin objektiv genug, um pauschale Aussagen über „systematische“ Missstände im Lebensraum von insgesamt 1,8 Milliarden Menschen zu treffen. Das Wunder ist, dass sich die UNO mit dieser kümmerlichen Datenbasis überhaupt an die Öffentlichkeit wagt. Wieder zerbröselt eine Geschichte bei der Sichtung der Quellen. Und ein heimisches Leitmedium fungiert als PR-Agentur für die Verbreitung eines „Berichts“, auf den man, wenn man tatsächlich Journalismus betriebe, einen sehr kritischen Blick werfen müsste.


[1] Die Tabelle wurde ergänzt um 14 im Jahr 2019 von der Polizei erschossene Personen. Andere Todesarten, wie z. B. Ersticken oder auf der Flucht Verunfallen, werden in Statistiken nicht erfasst. 
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