Das neue N-Wort

Jetzt hat es also das Allerweltswort „normal“ erwischt, das man nicht mehr verwenden sollte, will man sich selbst politisch-moralisch überlegen fühlen. Allerdings schadet es der demokratischen Diskussion mehr, Wörter wie „normal“ zu ächten, als sie zu verwenden.

Politische Sommerlochdiskussionen treiben oft einmal skurrile Blüten. 2023 wird als das Jahr in Vergessenheit geraten, in dem in der österreichischen Politik über das Wort „normal“ gestritten wurde. Zur Erinnerung: Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner verkündete zu Sommerbeginn (in einem Gastkommentar in der „Presse“ am 20. Juni 2023), sie wolle Politik für normal denkende, normale Bürger machen (also für die Mehrheit im Sinne einer statistischen Normalverteilung), und äußerte in dem Text wenig Verständnis für Klimaaktivisten, die regelmäßig den Frühverkehr blockieren und verhindern, dass normale Bürger zu normalen Zeiten an ihren Arbeitsplatz gelangen. Ca. zwei Wochen später konterte Vizekanzler Werner Kogler in einem „profil“-Interview, den Begriff „normal“ zu verwenden sei gefährlich und habe etwas Präfaschistoides an sich. Und schon war der schönste mediale Schlagabtausch im Gange, in den sich auch Bundespräsident Alexander van der Bellen einmischte, als er zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele am 19. Juli metaphorisch vor zerbrochenen Fenstern und real vor populistischer Rede warnte, die die Gesellschaft spalte. Wobei seine Kritik gefühlsmäßig sowohl die Verwendung des Begriffs „normal“ zum Ziel hatte, den sich die ÖVP aber nicht ausreden lassen will, als auch Werner Koglers überzogene Faschismuskeule.

Darf man noch „normal“ sagen? – Falsche Frage!

So weit die Chronik der laufenden Ereignisse, die medial zahlreiche politische Kommentatoren über die vermeintlich problematische Vokabel „normal“ philosophieren ließ. Hurra, das Sommerloch war gefüllt. Wie so oft, wenn sich österreichische Journalisten in aller Eile geschwind eine Meinung zu einem aktuellen Thema aus den Fingern saugen, blieb die Diskussion eher an der Oberfläche hängen: Darf man jetzt „normal“ sagen oder nicht? Ist die Vokabel wirklich gefährlich? Kann ihre Verwendung Populismus und Intoleranz begünstigen? Lauter Fragen, die offensichtlich auf der Hand liegen und doch am Kern der Debatte vorbeigehen.

Auf einer Meta-Ebene geht es in dieser und ähnlichen Diskussionen nämlich gar nicht um einzelne Begriffe wie das inhaltlich dehnbare „normal“, sondern vielmehr um die Frage, wer bestimmt, was gesagt werden darf und wie über ein Thema gesprochen werden soll. Die Deutungshoheit also. Und hier ist es interessant zu beobachten, wie es einer akademisch-journalistischen Elite seit einigen Jahren gelingt, Ausdrucksweisen und Begrifflichkeiten so zu besetzen, dass konventionelle Sprache in Windeseile moralisch abgewertet wird.

Essbares nach Schimpfwörtern benennen

Das betrifft einzelne Wörter, wie „Zigeuner“, „Neger“, „Mohr“ etc., die im Deutschen jahrzehntelang sowohl von Rassisten (also rassistisch) als auch wertfrei (z. B. von Schriftstellern wie Erich Kästner, Astrid Lindgren oder Christine Nöstlinger) gebraucht werden konnten. Diese Wörter werden seit rund 20 Jahren im Fahrwasser amerikanischer Rassismustheorien und ihrer deutschen Apologeten als zutiefst rassistisch deklariert, und jeder, der sie noch in den Mund zu nehmen oder zu Papier zu bringen wagt, landet flugs im Rassismustopf der Ewiggestrigen. Man traut sich gar nicht mehr, sie auszusprechen, sondern ersetzt sie durch die verdrucksten Bezeichnungen „N-Wort“, „M-Wort“ oder „Z-Wort“, so als wäre schon die Lautfolge der Gottseibeiuns. Das gilt auch dann, wenn man diese Wörter indirekt verwendet, als Zitat oder in einem historischen Zusammenhang bzw. als Bezeichnung beliebter Gerichte oder Süßspeisen wie Zigeunerschnitzel, Negerbrot oder Mohrenkopf. (Dabei muss die Sprache erst noch erfunden werden, die Essbares nach Schimpfwörtern benennt. Das glauben höchstens Arschkrapfen.)

Der falsch verstandene Flüchtling

Es betrifft aber auch völlig neutrale Wörter wie „Behinderte“ oder „Flüchtlinge“, denen man mit gewundenen Konstruktionen auszuweichen sucht („Menschen mit Behinderung“ bzw. „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“, „Geflüchtete“), weil man den konventionellen Begriff für abwertend hält. Warum, ist mir als Philologe und Autor, der sich seit 35 Jahren täglich mit der Sprache beschäftigt, schleierhaft. Beim Wort „Flüchtling“ basiert es auf einer Fehleinschätzung der Endung „-ling“, die fälschlich für abwertend gehalten wird. So als ob ein Zwilling, ein Liebling, ein Schmetterling etwas Verwerfliches wäre, nur weil es auch einen Schädling und einen Widerling gibt. „Die ererbte und aktuelle Funktion des Suffixes -ling besteht ausschließlich in der Vereinzelung (X-ling bedeutet X als einzelnes Mitglied/Exemplar einer Gruppe)“, führte dazu Olav Hackstein, Linguistikprofessor an der Münchner Uni, 2021 in einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ aus.

„Sie“ ist weiblich. Oder was meinen Sie?

Die moralische Abwertung konventioneller Sprache betrifft vor allem den großen grammatischen Komplex des generischen Maskulinums, wo seit Jahrzehnten der Irrglaube als Tatsachenbehauptung verbreitet wird, die deutsche Grammatik bevorzuge Männer und benachteilige Frauen, u. a. weil das Nomen Agentis mit dem grammatischen Maskulinum gebildet wird. Das Nomen Agentis ist die vom Verb abgeleitete Bezeichnung für den Ausübenden einer Tätigkeit, z. B. lehren – Lehrer, fahren – Fahrer, lenken – Lenker etc. Dass mit diesem grammatischen Bauschema genauso auch Dinge oder Abstrakta bezeichnet werden (Staubsauger, Lenker, Dreher, Anhänger, Lacher …) und dass das Maskulinum in diesem Zusammenhang primär nichts über das Wesen oder Geschlecht des Bezeichneten aussagt, sondern man sich diese Details aus dem jeweiligen Kontext erschließen muss, wird von der Tschenderfraktion geflissentlich übersehen. Sie pocht auf Bann des grammatischen Maskulinums und „Gerechtigkeit“ mittels Sternderl, Doppelpunkt und Regenbogenfahne. Es reicht, wenn sich „Betroffene“ in einzelnen Begriffen „nicht repräsentiert“ sehen, um jeden Hinweis auf die Neutralität der Grammatik abzuwürgen. Dabei: Die Mehrheit unserer Pronomen sind feminin. Müsste man nicht auch das höfliche „Sie“ und die Mehrzahl-Pronomina „sie“ und „ihr“ gerechterweise tschendern? Immerhin denken die meisten Menschen bei „Sie“ an eine Sie. Als Mann sehe ich mich nicht repräsentiert darin. (Ironie Ende.)

Tschenderneutrale Sprachen, gleichberechtigte Gesellschaften?

Weil ich mich als Stadtbewohner und langjähriger Grün-Wähler mit geisteswissenschaftlichem Studienabschluss in dem Milieu ein wenig auskenne, wage ich zu behaupten, dass es vor allem die urbanen Parteigänger der Grünen und die Vertreter der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind, die der Meinung aufsitzen, dass sich mit Sprache die Welt verbessern lasse. Wenn man bewusst spricht, bewusst auf seine Wortwahl achtet, bewusst darauf achtet, dass alle möglichen Geschlechter in jedem Satz „repräsentiert“ werden, dann wäre damit der Gesellschaft etwas Gutes getan. So der Glaube. Das ist eine rührend naive Ansicht, die der Sprache (im Sinn der Wortwahl und der Grammatik) eine fast magische Fähigkeit zuspricht, die Gesellschaft zu formen. Aber es ist leider totaler Blödsinn. Dieser Blödsinn lässt sich zwar mit voreingenommenen, schlecht gemachten kognitionspsychologischen Untersuchungen als wissenschaftliche Erkenntnis hinbiegen („Befragte denken eher an Männer, wenn sie Berufe im generischen Maskulinum hören“), zerschellt aber an tieferen linguistischen Einsichten. Denn Grammatik formt nicht die Weltsicht der jeweiligen Sprecher und beeinflusst schon gar nicht deren politische Systeme. Punkt. Persisch und Türkisch sind als Sprachen perfekt „tschenderneutral“, kennen kein Maskulinum und keine „grammatische Benachteiligung“ von irgendwem, und was bringt es den Frauen (Schwulen, Lesben, Transen etc.) im Iran und der Türkei? – Eben.

Die „betroffene“ Minderheit diktiert der Mehrheit die Sprache

Wenn man das bewährte Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation hernimmt, dann entsteht der ganze Komplex der politischen korrekten Sprachverwindung durch eine verfälschte Wahrnehmung auf der Empfängerseite: Obwohl die große Mehrheit der Sender Bezeichnungen und grammatische Konstruktionen nicht rassistisch, abwertend oder sexistisch verwendet, werden sie von diversen ideologischen Gruppen, die sich als besonders aufgeklärt oder moralisch höherwertig sehen, doch so verstanden. Der Hinweis auf die lange Zeit mögliche neutrale Verwendung von Wörtern wie „Neger“ im Deutschen oder die sogar positive Konnotation von „Mohr“ (seine Apotheke danach zu benennen, war eine Auszeichnung) sind vergeblich. Ebenso der Verweis auf linguistische Studien zum generischen (d. h. nicht patriarchalen) Ursprung des Maskulinums bzw. der Hinweis auf die Tatsache, dass 97 % der Menschen generische Maskulina im Plural ohne Probleme als generisch auffassen, zum Beispiel im Satz „Österreich hat 9 Millionen Einwohner“. Wenn 3 % „Betroffene“ Wörter oder grammatische Konventionen abweichend verstehen und verletzend bzw. „ungerecht“ empfinden, dann muss die Mehrheit ihren Sprachgebrauch ändern, und im ORF sagen die Moderatoren seit einiger Zeit immer brav „Einwohnerinnen und Einwohner“. Auf die Idee, dass sich die „Betroffenen“ vielleicht mal informieren und ihre Standpunkte überdenken könnten, scheint keiner zu kommen. Gefühle stehen über den Fakten. Aber nicht nur: Die Gefühle der betroffenen Minderheiten stehen auch über den Gefühlen der ebenso betroffenen Mehrheit – denn wer ist nicht betroffen, wenn es um die Sprache geht, die unser Alltagsleben durchdringt?

Mehrheiten werden ignoriert

Umfragen zeigen regelmäßig, dass der Mehrheit der Bevölkerung die sprachliche Bevormundung zunehmend auf den Senkel geht. Bei einer Umfrage im Frühjahr 2023, die das Meinungsforschungsinstitut OGM im Auftrag der Tageszeitung „Kurier“ durchführte, waren rund 65 % der Befragten dagegen, dass Unis, Ämter und der ORF weiter tschendern, nur 14 % waren dafür, dem Rest (ca. 20 %) war es egal. Auf die Frage, ob Tschendern für die Gleichstellung etwas bringt, war die Meinung noch eindeutiger: 81 % verneinten die Frage, 7 % wussten keine Antwort, nur 12 % glaubten, es wäre von Vorteil. Universitäten, Behörden, Medien und Unternehmen ignorieren diese Mehrheitseinschätzungen und -wünsche und verbiegen die Sprache nach ihren Ideen von moralischer Richtigkeit munter weiter. Der Effekt: Man fühlt sich von der politisch korrigierten Sprache „moralisch begrapscht“, wie es eine Berliner Autorin einmal salopp ausdrückte. Warum der Widerstand zunimmt, je mehr getschendert wird, erklärte im Frühjahr 2023 der Politikpsychologe Thomas Kliche, Professor für Bildungsforschung an der Hochschule Magdeburg-Stendal, in einer deutschen Regionalzeitung: „Man ist immer gezwungen, Stellung zu nehmen. Darauf folgt Widerstand, die Menschen verteidigen die Kontrolle über ihr Lebensumfeld.“

„Betreutes Denken“ oder Gesinnungskontrolle

Johanna Mikl-Leitners „Presse“-Kommentar, in dem sie den Begriff „normal“ mehrfach verwendete, zielte genau auf diese Unzufriedenheit mit der sprachlichen Bevormundung und auf die Rückeroberung des rhetorischen Lebensumfeldes ab. Sie hat dem Volk „aufs Maul geschaut“, während die Grünen (und die SPÖ) in ihrem Glauben, die Welt damit verbessern zu können, ständig darum bemüht sind, dem Volk aufs Maul zu hauen. Immer wieder. Wie in der guten, alten Schwarzen Pädagogik, wo man Kindern, die etwas Ungehöriges sagten, den Mund mit Seife ausgewaschen hat. So wird die Sprache aufgeladen, und wer die falschen Wörter verwendet oder bewusst nicht tschendert, steht im Verdacht, reaktionärer Sexist, Rassist, Schwulenhasser oder transphob zu sein. Die Nähe des Wortes „normal“ zum Faschismus, die Vizekanzler Kogler unterstellte, ist die nächste Steigerungsstufe. Doch die Annahme, dass „falscher“ (unerwünschter) Sprachgebrauch in jedem Fall Ausdruck einer reaktionären, intoleranten, anti-emanzipatorischen Haltung sei, ist lächerlich. „Betreutes Denken“ nennen das Phänomen jene, die über das sprachliche Gouvernantentum noch lachen können. Gesinnungskontrolle nennen es Grünen-interne Kritiker in Deutschland. Der Großteil der Leute fühlt sich von den Argumenten der politischen Korrektheit in ein Eck gedrängt, in dem man nicht steht bzw. stehen will. Politische Diskussionen werden zum sprachlichen Minenfeld, wenn ideologische Tugendwächter Wort um Wort mit Tabus belegen oder es zumindest versuchen. Genau das hat Werner Kogler getan, indem er „normal“ quasi als Vorstufe zu Vokabeln wie „entartet“ einstufte.

Political Correctness produziert Scheinkonsense und Frustration

Die Innsbrucker Philosophin Marie-Luisa Frick bezeichnet in ihrer Studie „Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft“ (Reclam 2017) Political Correctness als reale „Form des sozialen Meinungsdrucks“. Sie widerspricht damit Autoren, die meinen, politische Korrektheit wäre eine Kampfvokabel der Rechten und das Phänomen bloß eingebildet, weil ohnehin jeder sagen dürfe, was er wolle, so lange es nicht gegen Gesetze verstoße. Man müsse halt nur die Konsequenzen tragen, wenn man etwas Unerwünschtes sage. Frick weist darauf hin, wie sehr wir als soziale Wesen auf unser soziales Umfeld angewiesen sind. Und sie benennt einen demokratiepolitisch problematischen Aspekt dieses „sozialen Meinungsdrucks“: „Solange erweiterte Political Correctness auf diesem Weg verhindert, dass auch die Grenzen des legitimen (angemessenen) und nicht nur des legalen (den Gesetzen entsprechenden) Diskurses dem demokratischen Wettstreit ausgesetzt sind, produziert sie Scheinkonsense aufseiten der ‚Vernünftigen‘ bzw. ‚Guten‘ und Frustration, mitunter Aggression, bei denen, die diesem Reinheitsgebot zum Opfer fallen.“ Das macht sich zum Beispiel unter Grün-Wählern oder Universitätsangehörigen bemerkbar, wenn sie die Tschenderei in ihrem Umfeld zwar nicht gut finden, aber schweigend hinnehmen, weil sie sich nicht dem Verdacht aussetzen wollen, im rechten Eck angesiedelt zu sein.

„Neues Denken“ im Gravitationsfeld des Neusprechs

Alexander van der Bellen hat in seiner Bregenzer Eröffnungsrede vor dem Schaden für die liberale Demokratie gewarnt, den populistische Diskussionen und Wörter wie „normal“ anrichten können. Aber unser Herr Bundespräsident irrte: Nicht die konventionellen Wörter und Begriffe in all ihrer vitalen Vielschichtigkeit sind ein Problem für die politische Diskussion. Die Gefahr in der konkreten Debatte geht vielmehr davon aus, konventionelle Sprache negativ zu punzieren, ideologisch aufzuladen und ihre Verwendung ins rechtsextreme Eck zu stellen. Oder das Eintreten für eine aufgeklärte, offene Diskussion herablassend als „altes Denken“ zu brandmarken, wie es Grünen-Klubchefin Sigi Maurer getan hat, als der deutsche Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble im Jänner 2023 in seiner Festrede anlässlich der Wiedereröffnung des renovierten österreichischen Parlaments dafür plädierte, „legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, auch nicht unter Geltendmachung von Moral oder Identität“.

Die Grünen im Parlament sehen sich gerne als Repräsentanten eines „neuen Denkens“, das unter Einhaltung eines von ihnen genormten Vokabulars in allen Regenbogenfarben schillern will. Dass sie sich mit ihrem „neuen Denken“ im Gravitationsfeld des Orwell’schen „Neusprechs“ bewegen, ist ihnen offensichtlich nicht klar. Kein Wunder: Was die Sprache betrifft, sind die Grünen gärtnernde Ziegen*Böcke. LH Johanna Mikl-Leitner hat der Normalisierung der demokratischen Diskussion in Wahrheit einen großen Gefallen getan.

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