Wenn Cézanne am Kulm auf Beuys trifft

Ein sommerlicher Besuch am Fuße des oststeirischen Kulms bei Richard Frankenberger, der mit dem Besucher im Buch seines Künstlerlebens blättert.

Wenn Richard Frankenberger ins Reden kommt, wird es ausufernd: Der Künstler und ehemalige Leiter der Meisterklasse für Malerei an der Grazer Ortweinschule kann auf über fünf Jahrzehnte Kunstschaffen zurückblicken. Für das ARTfaces-Porträt treffen wir uns bei ihm daheim am Fuß des oststeirischen Kulm bei Pischelsdorf. Wir sitzen Mitte Juli vor dem alten Blockhaus der Frankenbergers im Schatten unter dem Maulbeerbaum. Ich blättere den großformatigen, über 300 Seiten starken Band durch, den mumok-Chefkurator Rainer Fuchs und der Grazer Kultum-Chef Johannes Rauchenberger im Frühsommer 2021 herausgegeben haben. Das Buch umfasst das Lebenswerk von Richard Frankenberger. „Natur. Gesellschaft. Widerstand“, so der Titel der Monografie, gibt Einblicke in ein Werk, das für drei Leben gereicht hätte.

Richard Frankenberger mit einem seiner „Maltagebücher“.

Während ich blättere, erzählt der Künstler Hintergrundgeschichten zu den Bildern und Texten, auf die mein Blick fällt: Zum Beispiel das Foto vom 1998 auf dem Hauptplatz von Pischelsdorf errichteten Marktbrunnen, der an ein überdimensionales Lesepult erinnert und irgendwann „abmontiert“ wurde, wie Frankenberger mit einer Spur Bitternis in der Stimme sagt. Das passt zum Thema Widerstand, mit dem ein Kunstmensch am Land schon immer zu kämpfen hatte, selbst wenn er, wie Frankenberger, selbst vom Land stammt: Der heuer 74-Jährige ist in Ilz bei Fürstenfeld aufgewachsen, hat dort die Hauptschule besucht. Äußerst zeichenbegabt, wechselte er im Anschluss auf die Ortweinschule nach Graz in die Bildhauerklasse und studierte später an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Malerei.

Studienjahre in Wien und Frankreich

Die klassische Moderne prägte sein frühes Denken und Arbeiten. Auf den Spuren seines malerischen Vorbilds Paul Cézanne wandelte er während mehrerer Studien- und Stipendienaufenthalte zwischen 1968 und 1972 in Südfrankreich und Paris, ehe er seine ganz persönlichen Sainte-Victoire – der Berg, der Cézannes Quell der Inspiration war – in der Oststeiermark am Fuße des Kulm fand. Dieser 975 m hohe Berg, an dessen Hang er sich gemeinsam mit seiner Frau Reserl Ende der 1970er-Jahre ansiedelte, wurde Richard Frankenberger zum Programm. In seiner Lesart steht K.U.L.M. als Akronym für „Kunst und Leben miteinander“ – ein Motto, das auf den Gesellschafts-Aspekt in Frankenbergers Oeuvre verweist: Im Sinne von Joseph Beuys wurde dem gelernten Bildhauer die Kunst zur „sozialen Plastik“. Als Künstler wurde Frankenberger zum Vernetzer, zum Ermöglicher.

Kulturverein K.U.L.M.

Das Vehikel dafür war der Kulturverein K.U.L.M., dem neben Richard und Reserl Frankenberger die Künstler Klaus Schafler, Gertraud Ranegger-Strempfl und Gottfried Ranegger sowie die Nachhaltigkeitsexpertin Petra Bußwald angehörten. Auch der Grazer Philosoph Erwin Fiala leistete etliche Beiträge für die Initiative, die sich mit Ausstellungen, Aktionen und Diskursen den Themen Kunst, Gesellschaft und Ökologie widmete. 1993 wurde ein KULT.UR.WEG auf den Kulm angelegt, 1994 eine „Künstlerwallfahrt“ nach Pöllau organisiert, 1995 der „Kulturstock 3“ in Pischelsdorf als Ort für Ausstellungen und Symposien etabliert. Einer der Stammgäste in Pischelsdorf war etwa der Schriftsteller Robert Menasse, mit dem Frankenberger seit Anfang der 1990er-Jahre in Verbindung steht. Man beteiligte sich am „steirischen herbst“, holte die Avantgarde aus den Galerien, führte sie an die frische Luft. Und das mit einem sehr langen Atem: Den Kulturverein gibt es in neuer Zusammensetzung immer noch. Mit einer 2013 bis 2015 herausgegebenen dreibändigen Sammlung, den „K.U.L.M.-Mitteilungen 1–3“, verabschiedete sich Frankenberger nach über 20 Jahren als Vereinsobmann.

Der Dom als zentrales Projekt

Ich blättere weiter im Buch eines Künstlerlebens. Richard Frankenberger knüpft an die Bilder an, die auf den aufgeschlagenen Seiten zu sehen sind. Wenn Frankenberger ins Reden kommt, legt er viele Fäden aus. Ein Fehler wäre es, sich in seinen Abschweifungen an Einzelheiten zu verhaken. Man muss das große Ganze sehen: das Geflecht, wenn Frankenberger vom Kulm, dem Berg, auf K.U.L.M., das Kulturprojekt kommt, vom Kulturprojekt auf einzelne Aktionen und von den Aktionen auf die Widerstände, die die Aktionen am Land teils mit sich brachten. Manchmal verkehrt sich der Widerstand allerdings, und die Menschen entdecken mit einiger Verzögerung das Potenzial, das die Kunst hat. Wie bei einem der zentralen K.U.L.M.-Projekte: dem großen, kuppelförmigen Dom, an dem man vorbeikommt, wenn man auf der B54 zwischen Pischelsdorf und Gleisdorf unterwegs ist. Ein Rastplatz lädt zum Erkunden ein, eine freistehende Stiege zum Blick auf den Kulm. Diese Stiege war einmal am „Eisernen Haus“ in Graz montiert, aus dem später das Kunsthaus wurde. Reserl Frankenberger gab ihr den Namen „Nomadin“, als sie 2003 hier aufgestellt wurde.

Im Inneren des Doms

Der auffällige Dom am Kulm kam erst später dazu: Er wurde von den Frankenbergers einem Holzhändler abgekauft und 2011 auf dem Feld hinter der Stiege errichtet. Wer ins Innere der ehemaligen Bundesheer-Radarkuppel tritt, findet sich in einem Raum wieder, der die Wahrnehmung verändert: Das Licht im Inneren ist gedämpft, die Geräusche vervielfältigen sich und verstärken die Erfahrung der eigenen Kleinheit, die sich angesichts der zehn Meter hohen Sphäre einstellt. Robert Menasse schreibt dazu in Frankenbergers Künstler-Monografie: „Der Kulmer Dom ist der Dom einer säkularisierten Welt, in der wir als Zeitgenossen einen erhabenen Raum errichten wollten, der unsere Sehnsucht nach Größe, Erhabenheit und Würde ausdrückt.“ – Lange war das Gebilde an diesem Ort umstritten. In der Zwischenzeit wollen die wenigsten den Dom missen. Er gehört zum Kulm wie der Kulm zur Region.

Späte Anerkennung als Künstler

Und auch Richard Frankenberger erfährt nach langen Jahren, wo er hauptsächlich als Veranstalter bekannt war, allmählich die Anerkennung, die ihm als Künstler gebührt. Er führt mich in sein früheres Atelier, das ihm jetzt als Bibliothek dient, und anschließend in sein neues Atelier, das in einen Anbau gewandert ist. Hier bewahrt er seine „Maltagebücher“ auf, die er seit zwei Kopfoperationen in den Jahren 2013/14 führt: Jeden Tag notiert Frankenberger darin mit seiner makellosen, an Kurrent erinnernden Handschrift Ereignisse des Tages, klebt ausgedruckte Fotos ein, hinterlässt mit gewalzter Farbe seine Spuren: Mehr als 30 dieser Kunstbuch-Unikate haben sich in den letzten Jahren angesammelt.

Oben, im alten Atelier, lagern noch einzelne Relikte aus Frankenbergers früherem künstlerischen Leben, darunter ein Gemälde, das eine Frau beim Lesen zeigt, und eine monochrome Schlafende. Beide Bilder zeugen vom enormen malerischen Potential Frankenbergers. 10 Jahre lang, bis zur Pensionierung 2010, hat er die Meisterklasse für Malerei an der Ortweinschule geleitet – obwohl er in den 1990ern die Pinsel weitgehend zur Seite gelegt hat.

Die Kuratorin Elisabeth Wahl hat zu Frankenbergers 70. Geburtstag anno 2017 seine von 1965 bis 1993 entstandenen Landschafts-Aquarelle und -Zeichnungen in einem Katalog gesammelt. „Es sind die Beherrschung der traditionellen Techniken und der souveräne eigenständige Umgang damit, die Frankenberger als Zeichner und Maler charakterisieren“, schreibt darin mumok-Chefkurator Rainer Fuchs. Richard Frankenberger verhehlt nicht, dass ihn die späte Anerkennung freut: „Von solchen Leuten gelobt zu werden, hat mir natürlich gut getan“, sagt der Künstler. Und ich will angesichts der beeindruckenden Bilder von ihm wissen, warum er überhaupt zum Malen aufgehört hat. – Frankenberger, schmunzelnd: „Ich rede gerne, und beim Malen sitzt man lange still da und widmet sich dem Bild.“ Ernsterer Nachsatz: „Außerdem hatte ich nie das Gefühl, dass es auf meine Bilder ankommt.“ – Eine krasse Fehleinschätzung, wie sich im Nachhinein herausstellt.

Abschlussrunde durch den Wald

Aus dem Atelier treten wir durch eine ehemalige Stalltür ins Freie und drehen zum Abschluss eine Runde auf dem Grund und dem angrenzenden kleinen Waldstück. Frankenberger führt mich an den Natur-Kläranlagen vorbei, die er für das Haus angelegt hat, er weist mich auf einzelne Bäume hin, die er hier gepflanzt hat: Ulmen, Eschen, Linden. Später machen wir Halt vor einem noch jugendlichen Mammutbaum. Und wir kommen zurück zum Haus, vor dem die Linde steht, die sein Vater 1977 hier mit ihm gepflanzt hat. Auch in seinem umfangreichen Werk kommt Frankenberger immer wieder auf Bäume als Sinnbild und Holz als Material zurück. Sein erster Auftrag als Künstler war es 1971, den Riesenmammutbaum von Gleichenberg zu malen. 1990 ließ er den Stamm einer 250 Jahre alten, gefällten Dorflinde auf sein Grundstück schleppen, um den langsamen, über 25 Jahre währenden Zerfall des Stammes zu dokumentieren. 1997 wandelte Frankenberger mit dem Projekt „5000+ Eichen“ auf den Spuren von Joseph Beuys berühmter Documenta-Aktion „7000 Eichen“.

Doe Pflanzenbibliothek. Foto: Richard Frankenberger

2013 stellte Frankenberger eine „Pflanzenbibliothek“ zusammen: Dafür verwandelte er naturwissenschaftliche Bücher in gleich große „Holz-Bücher“ aus verschiedenen Baumarten. Und 2017 stellt er in der Personale zum 70. Geburtstag im Grazer Schloss St. Martin Frottagen von 21 Baumrinden aus. Da liegt bei unserem Gespräch natürlich die Frage nahe, welches sein Lieblingsbaum ist. Als Antwort schlägt Richard Frankenberger die Monografie seines Künstlerlebens auf und weist auf das Vorsatzblatt hin: Ursprünglich sei hier ein (zu) weißes Blatt Papier gewesen, erzählt er. Daher habe er beim Verlag durchgesetzt, dass das Frottage-Bild der Rinde des Maulbeerbaums, unter dem wir sitzen, als Vorsatz genommen wird: Morus nigra – der Maulbeerbaum.

So kehrt jedes Gespräch mit dem Künstler Richard Frankenberger nach vielen anregenden Verästelungen irgendwann wieder zu seinem Ausgangsort zurück und enthüllt neue, feine Schichten der Wirklichkeit, die man zuvor noch nicht wahrgenommen hatte.

Bücher (Auswahl)

  • Richard Frankenberger (Hg.): K.U.L.M. Mitteilungen 1–3. Drei Bände im Schuber. Edition Keiper: Graz 2015
  • Elisabeth Wahl (Hg.): Richard Frankenberger. Landschaften – Aquarelle und Zeichnungen 1965 bis 1993. Mit einem Text von Rainer Fuchs. Verlag Bibliothek der Provinz: Weitra 2017
  • Rainer Fuchs, Johannes Rauchenberger (Hg.): Richard Frankenberger: Natur. Gesellschaft. Widerstand. Verlag Bibliothek der Provinz: Weitra 2021

Website des Künstlers: https://www.kunstraumkulm.net/

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner