Wies wies is

Ein paar Betrachtungen zur Kulturinitiative Kürbis Wies, die mit dem Österreichischen Kunstpreis 2015 ausgezeichnet wurde. Dieser Text ist in der Begleitpublikation zu den Kunstpreisen 2015 erschienen.

Wo eigentlich ist Wies?

Diese Frage bekommt Elfriede Roßmann von der Kulturinitiative Kürbis immer wieder mal gestellt, wenn sie Leute von außerhalb der Steiermark am Telefon hat. Wies? – Google Maps spuckt folgende Koordinaten aus: 46.718507, 15.270402. Für das Navi müsste das reichen. Aber damit man sich einen Begriff von der Lage machen kann, hier noch folgende Entfernungsangaben: Bis zur slowenischen Grenze am Radlpass sind es 12 Kilometer mit dem Auto; die nächsten größeren Städte sind Marburg (36 km Luftlinie), Graz (41 km), Laibach (93 km), Zagreb (112 km) und Triest (165 km). Von Wien trennt Wies zwar nur ein Buchstabe, aber 185 Kilometer Luftlinie – und rund 1,8 Millionen Einwohner. In Wies mit seinen vier Ortsgemeinden leben aktuell rd. 4.500 Menschen, Tendenz leicht fallend.

Auf dem Weg nach Wies kann man Einkäufe erledigen, die man in großen Städten nicht so leicht tun würde. Austrofred, der seine Autobiografie „Alpenkönig und Menschenfreund“ anno 2006 in der edition kürbis erstveröffentlichte, berichtet darüber Folgendes: „Vor ein paar Monaten bin ich nämlich auf dem Weg zu einem Konzert in der Südsteiermark zufällig beim Flohmarkt vom Gleinstättner Lagerhaus vorbeigekommen, und weil noch Zeit war bis zum Soundcheck, jetzt habe ich da ein bisschen durchgeschaut und mir, eher aus einer Verlegenheit heraus (ich wollte nicht wieder gehen, ohne dass ich etwas kaufe), einen Fünfzigkilosack Kunstdünger zum halben Preis gecheckt.“ (Austrofred: „Ich rechne noch in Schilling“)

Keine Ahnung, was Austrofred mit dem Kunstdünger angefangen hat. Vielleicht hat er ihn unter seine Weinreben geschüttet. Und da wären wir bei einem Thema, das Wies mit Wien gemeinsam hat: den Weinbau. Der südweststeirische Ort liegt an den Ausläufern der weststeirischen Schilcherregion und der südsteirischen Heimat des Welschrieslings. Was Wies allerdings Wien voraus hat, sind unter anderem die Almflächen, denn das Gemeindegebiet zieht sich in Wielfriesen an der Koralpe bis auf 2.000 m Seehöhe hinauf. Aber das ist relativ weit weg vom Wieser Ortszentrum, das auf rund 340 m Seehöhe liegt und von einer barocken Wallfahrtskirche dominiert wird. Maria Gräfin von Herberstein ließ die Kirche im späten 18. Jahrhundert errichten – für eine wundertätige Kopie der Statue des Gegeißelten Heilands auf der Wies, der im oberbayerischen Steingaden bis heute die Pilgermassen anzieht.

Pilgern einst und jetzt
Auch ins steirische Wies strömten zu früheren Zeiten die Pilger aus allen Richtungen, die Messen wurden anfangs auf Deutsch und Slowenisch gelesen. Dann kam der „Schwarze Sonntag“ – das Kirchweihfest vom 22. September 1850 –, wo Dutzende Gläubige, die am Dachboden vom Bäcker Quartier bezogen hatten, bei einem Brand umkamen. Nach dieser Katastrophe verebbte der Pilgerstrom und erreichte bis heute nicht mehr den Umfang aus jenen frühen Jahren. Dabei ist die Kirche mit ihrem großartigen Fresko des weststeirischen Malers und Organisten Toni Hafner (1912-2012) sehr sehenswert. Hafner hat in diesem himmelwärts strebenden Bild nicht weniger als 140 Figuren verewigt, die den auferstandenen Christus flankieren. Der Künstler verstand sein Werk als bildnerische Hommage an Anton Bruckners „Te Deum“.

Beba Fink im Atelier im Schwimmbad (Videostill, (c) Kulturinitiative Kürbis)

Beba Fink im Atelier im Schwimmbad (Videostill, © Kulturinitiative Kürbis)

Wenn heute die Menschen aus der ganzen Region und aus Graz wieder vermehrt nach Wies pilgern, dann zu den Theateraufführungen, Vernissagen, Lesungen und Konzerten der Kulturinitiative Kürbis, die seit Jahrzehnten das kulturelle Leben der Region prägt. Zu den Spielstätten der Kulturinitiative zählen das „Theater im Kürbis“ im Dachgeschoss des Feuerwehrhauses, die „Schlosstenne Burgstall“ und neuerdings auch die Räume des „Ateliers im Schwimmbad“, wo seit 2012 ein Stipendienprogramm bildende Künstlerinnen und Künstler in den Ort lockt. Die richten dann im ehemaligen Schulschwimmbad ihr temporäres Atelier ein und veranstalten Workshops für die Schülerinnen und Schüler des Ortes. Drei Beispiele: Die Leibnitzer Fotokünstlerin Beba Fink hat 2012 in Wies ihr künstlerisches Spektrum in Richtung Medienkunst erweitert; der slowenische Maler David Holzmann-Leitinger hat 2013 als Teil seines Aufenthalts die Unterschiede zwischen Slovenj Gradec und Wies in einem Video thematisiert; und der südsteirische Künstler David Reumüller widmete sich 2015 der Kunstfigur Johnny Silver – dem musikalischen alter Ego des Schauspielers Johannes Silberschneider – und warf damit Fragen von Identität und Authentizität auf.

Wies mag geografisch am Rand liegen. Aber in ihrer künstlerischen Offenheit beschäftigt sich die Kulturinitiative Kürbis immer wieder mit ästhetischen Positionen der Gegenwart, die auf dieselbe Weise auch in den urbanen Zentren verhandelt werden. Nicht umsonst spricht man bei ländlichen Gebieten mittlerweile vom „rurbanen“ Raum, einer Wortschöpfung aus den Begriffen rural und urban. Wer glaubt, dass die Kunst am Land irgendwie nach Bauernhof riechen muss, ist ein Ignorant, der nichts begriffen hat und sicher noch nie in Wies war.
Und damit kommen wir zur nächsten Frage:

Warum eigentlich Kürbis?
„Kürbisgerichte waren früher einmal ein Armeleuteessen“, sagt der Autor und Musiker Wolfgang Pollanz, der die Kulturinitiative Kürbis seit den 1980er-Jahren mitgestaltet. Wer wissen will, wie es vor dem Aufbrechen der Grenzen zum kommunistischen Jugoslawien um den Wohlstand von Wies und Umgebung bestellt war, kann Gerhard Roths Romane „Der Stille Ozean“ (1980) und „Landläufiger Tod“ (1984) lesen. Oder sich die Anfangsszene von Xaver Schwarzenbergs Verfilmung vom „Stillen Ozean“ aus dem Jahr 1982 anschauen: Hanno Pöschl steigt aus dem Zug, das Bahnhofshäuschen desolat, der Schienenstrang verliert sich im Nebel, alle Weichen stehen auf Endstation. Kein Wunder, dass die Hauptfigur Ascher in dieser Gegend vor allem gegen ihren Selbstmord ankämpft.

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Grenzöffnung, Tourismus und die Modernisierung des steirischen Weinbaus haben in den vergangenen 25 Jahren auch im Südwesten der Steiermark das nebelgetränkte Sackgassengefühl der Nachkriegszeit vertrieben. Der große wirtschaftliche Aufschwung ist allerdings ausgeblieben. Dafür erleichtert die gute Zugverbindung zwischen Wies und der steirischen Landeshauptstadt den zahlreichen Pendlern das Dasein. Die Armut der Keuschler, wie sie noch Gerhard Roth erlebte, der sich im benachbarten St. Ulrich im Greith in die Schreibklause zurückgezogen hatte, ist kein Thema mehr. Und der steirische Ölkürbis, früher Armeleuteessen, gilt inzwischen als Premiummarke; das steirische Kernöl wird als geografisch geschützte Bezeichnung eifersüchtig gehütet und in kulinarisch ambitionierten Gaststätten zum Veredeln sogar auf Süßspeisen geträufelt.

Beeindruckendes Mehrspartenprogramm
Die Kulturinitiative Kürbis geht ebenfalls nicht am Bettelstab. Ihre seit Jahrzehnten kontinuierlich vorangetriebene Arbeit wird von EU, Bund und Land Steiermark monetär und von der Gemeinde Wies mit elementaren Sachleistungen und kostenloser Infrastruktur ausreichend unterstützt. Freilich: Die meisten Leute beim Kürbis arbeiten mehr oder weniger ehrenamtlich für den Verein, und das oft Hunderte Stunden im Jahr. Aber man hat sich eine professionelle Infrastruktur geschaffen und ein breites Programm ins Leben gerufen. Die KI Kürbis fährt ein beeindruckendes Mehrspartenprogramm – was sie als regionale Kulturinitiative ziemlich einzigartig dastehen lässt. Neben dem ursprünglichen Theaterbetrieb, aus dem die ganze Initiative hervorging, gibt es die kleine „edition kürbis“, in deren Backlist Bücher unter anderem von Barbara Frischmuth, Mike Markart und meiner Wenigkeit zu finden sind; es gibt das im Alternativradio geschätzte Plattenlabel „pumpkinrecords“, bei dem Bands wie „Hella Comet“, „Hidden by the Grapes“ oder „Thalija“ ihre ersten Alben vorlegten. (Beide Programmlinien tragen übrigens die Handschrift von Wolfgang Pollanz.) Es gibt das Festival „Sommertraumhafen“, das seit Jahrzehnten in die magische Welt des Puppentheaters entführt; es gibt das bereits erwähnte „Atelier im Schwimmbad“, es gibt Theater-, Kunst- und Kreativworkshops für die Kinder und Jugendlichen des Ortes, und es gibt zahlreiche weitere flankierende Unternehmungen wie Filmvorführungen, Ausstellungen, Kunst im öffentlichen Raum und kulturpolitische Diskussionen. Kurz: Ein Wahnsinnsprogramm, wenn man bedenkt, dass Downtown Wies im Kern ein kleiner Markt mit 350 Einwohnern ist.

Wie eigentlich wachsen diese Kürbisse?
Wenn man sich fragt, unter welchen Bedingungen die Kürbisfrucht gedeiht, kann man in Wies ebenfalls fündig werden, und zwar rund um das Landwirtschaftliche Versuchszentrum (LVZ) des Landes Steiermark. Schautafeln entlang des „KürWiesWegs“ informieren über die Herkunft, die gesundheitliche Bedeutung und die kulinarische Verwendung verschiedener Kürbissorten. Alle zwei Jahre veranstaltet die Marktgemeinde Wies gemeinsam mit dem LVZ ein groß angelegtes Fest rund um den steirischen Plutzer, den Identitätsstifter der Region.

Wenn man sich analog dazu fragt, unter welchen Bedingungen eine regionale Kulturinitiative namens Kürbis gedeiht, dann wendet man sich am besten an Karl Posch, der den Kürbissamen in den frühen 1970er-Jahren in die Theatererde von Wies pflanzte und – gemeinsam mit anderen – bis heute für die Theaterschiene des Vereins verantwortlich zeichnet. Der gelernte Bautechniker und Lehrer hat 1972, um Geld für die Ortsgruppe der Landjugend aufzustellen, statt des üblichen Sommerfests ein Theaterstück auf die Bühne gebracht. Natürlich einen Nestroy: „Einen Jux will er sich machen“. Das Stück war ein Erfolg, und der Erfolg wurde in den Folgejahren wiederholt.

Theater mit Widerhaken
Theatergruppen sind am Land beliebt, vor allem wenn sie volkstümliche Stücke spielen. Aber das war Karl Posch eigentlich schon immer zu wenig. Für ihn und die Männer und Frauen, die jährlich drei bis vier Stücke auf die Bühne bringen, geht es immer auch darum, Themen der Gegenwart aufzugreifen und mit den Inszenierungen Fragen in den Raum zu stellen. Manchmal zieht sich die Aktualität ein Steirerjopperl an, etwa beim „Burgstaller Bauernkalender“, dem bis dato größten Erfolg der Wieser Theatermacher. Das Stück kombinierte zwischen 1973 und 2005 Jahr für Jahr traditionelle und moderne Kalendergeschichten – darunter von namhaften Autoren wie Felix Mitterer, Reinhard P. Gruber oder Rainer W. Fassbinder – und wurde 2003 mit dem Volkskulturpreis der Steiermark ausgezeichnet.

Oft macht man den Besuchern, die es sich gar zu gemütlich machen wollen, auch einen Strich durch die Rechnung. Etwa beim Stück über die „Comedian Harmonists“ im Herbst 2015, wo das Publikum gerne nur die Schlager gehört und am Ende weniger gerne die Geschichte mit den Nazis gesehen hätte. Für Karl Posch und seine Mitstreiter vom Theater im Kürbis ist es gerade diese Konfrontation mit Themen der Gegenwart bzw. mit einer Vergangenheit, die viele unter den Teppich kehren wollen, die zählt und die das Wesen einer ländlichen Kulturinitiative ausmacht.

Szene aus "In der Barberina mit den Comedian Harmonists", Foto: Robert Leitner/Kulturinitiative Kürbis

Szene aus „In der Barberina mit den Comedian Harmonists“, Foto: Robert Leitner/Kulturinitiative Kürbis

„So wie der Kürbis ein ganz bestimmtes Klima benötigt und nicht überall wächst, verhält es sich auch mit der Arbeit der Kulturinitiative Kürbis. Die Aktionen sind hier beheimatet, aus dem Fundus der Umgebung schöpfen die Kürbismacher ihre Anregungen, und hier, in dieser Region, soll den Menschen bewusst gemacht werden, was in ihnen und ihrer Umgebung an kreativem Potenzial steckt“, heißt es in einer Selbstbeschreibung der Kulturinitiative Kürbis.

Man müsste noch ergänzen: So wie ein Kürbis nie allein wächst, hat auch das Kürbis-Theater in der Kulturinitiative Kürbis vielfältige Früchte in verschiedenen Kunstsparten getragen – von der Literatur über Musik bis zur Bildenden Kunst. Nicht zu vergessen der Kulturdiskurs: „Wir können mit unserer Arbeit inhaltliche Themen vorgeben“, sagt Posch. „Weil wir in der Region verwurzelt sind, wird diese Auseinandersetzung ernst genommen, und wir werden oft auch herausgefordert, unsere Position zu vertreten und in der Diskussion Argumente zu liefern.“

Die Kultureinrichtung am Land übernimmt dadurch eine Funktion, die viele Kultureinrichtungen in der Stadt ebenfalls gerne hätten, aber nur selten erfüllen können, nämlich: in ihrem Wirkkreis nicht nur kulturell, sondern auch politisch Akzente zu setzen. Das ist weit mehr, als sich die meisten Kulturschaffenden von ihrer Arbeit heutzutage erhoffen dürfen. Die KI Kürbis gilt nicht umsonst seit Jahren als Vorzeigebeispiel einer gelungenen Kultureinrichtung im ländlichen Raum. Wer das noch nicht erlebt hat, soll es dem Austrofred nachmachen: Auf www.kuerbis.at nachschauen, was als Nächstes läuft, die Koordinaten 46.718507 und 15.270402 ins Navi eintippen, und gemma!

Werner Schandor

Dieser Essay erschien in der Publikation zum Österreichischen Kunstpreis 2015.

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