Eintauchen in die Linie

Renate Krammers Werk veranschaulicht, dass die Konzentration auf so etwas Elementares wie die horizontale Linie unendliche Möglichkeiten eröffnen kann.

Wie lange kann man sich als bildende Künstlerin mit der waagrechten, geraden Linie befassen? – Seit fast 20 Jahren beschäftigt sich Renate Krammer als Künstlerin mit einfachsten Strukturen und entdeckte dabei vor einigen Jahren den horizontal über das Blatt geführten Strich als nie versiegende Inspirationsquelle. Ihre jüngeren graphischen Arbeiten zeigen eine schier unendliche Variation von Linien, die im Abstand von wenigen Millimetern Blatt für Blatt füllen. Die Stärke des Bleistifts, die Härte der Mine, die unterschiedliche Tagesverfassung der Künstlerin, die täglich ab dem frühen Nachmittag an ihren Werken arbeitet, führt zu leichten Varianten der Linienführung, die den Bildern von Renate Krammer Leben einhauchen. Anders als am Computer erzeugte oder mit einem Lineal gezogene Linien sind die Striche von Renate Krammer sichtbar organische Äußerungen – nicht zittrig, aber auch nicht maschinell gleichförmig. „Was auf den ersten Blick ähnlich und gleich aussah, entpuppt sich letztlich im Detail als vollkommen unterschiedlich – man stellt immer mehr Differenzen fest – keine Linie gleicht der anderen“, schreibt der Kunsthistoriker Erwin Fiala über Krammers Bleistiftzeichnungen.

Renate Krammer im Dezember 2019 in der Galerie St. Leonhard in Graz
Foto: Werner Schandor

Damit beginnt das optische Experiment: Wie unterschiedlich schauen Bilder aus, wenn man sie mit Linien verschieden harter Bleistifte füllt? Oder: Welche Struktur entsteht, wenn man die Wellenlinien eines sanft bewegten Wassers nachzeichnet? Oder: Welche optische Effekte lassen sich erzeugen, wenn jede der Linien an unterschiedlichen Punkte von kleinen, vertikalen Beistrichen durchbrochen wird? – All diesen Fragen ist Renate Krammer in ihren Bildserien bereits nachgegangen: 16 Blätter mit verschiedenen Bleistifthärten waren etwa im Winter 2019 bei Krammers Personale in der Galerie Leonhard in Graz zu sehen. Ebenso wie Arbeiten aus der „Swarming“-Serie von 2017, wo kleine Beistriche wie versprengte Teile eines Schwarms sich zwischen den Linien finden. Bilder von Vogelschwärmen – von Krammer mit der Kamera aufgenommen und zu Radierungen transformiert – sind es auch, die vor Jahrzehnten am Anfang ihrer künstlerischen Beschäftigung standen.

Auf Umwegen zur Kunst

Ihr Weg zur Kunst war alles andere als geradlinig: Renate Krammer hat zwar schon als Kind gewusst, dass sie Malerin werden will, aber zunächst auf Drängen des Elternhauses nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspädagogik bei einem Steuerberater gearbeitet und danach an einer HAK unterrichtet, bevor sie beschloss, sich der Kunst zu widmen. „Mit über 40 geht man nicht mehr an die Akademie nach Wien studieren, also habe ich mir Wissen und Methoden bei verschiedenen Kursen in Österreich angeeignet“, erzählt Krammer. Einer ihrer prägenden Lehrer war der seit Jahrzehnten in den USA lebende, aus Österreich stammende Künstler und Kunsttheoretiker Paul Rotterdam. „Er war an der Akademie Graz zu Gast und hat in seinen Vorträgen, die oft bis nach Mitternacht gedauert haben, das Kunstgeschehen aus amerikanischer Perspektive betrachtet“, sagt Krammer. Dabei ist sie mit der Geisteshaltung des Minimalismus in Berührung gekommen.

Graphische Meditationen

Während sie selbst ihre Arbeit vor allem als Prozess sieht, finden Kunsttheoretiker zahlreiche Anknüpfungspunkte aus der Kunstgeschichte in Krammers Werken. Das beginnt bei der Überzeugung, dass die Gerade nichts in der Natur Vorkommendes sei (einer Ansicht, der Krammer mit einer Fotoserie von Wasserlinien am Horizont widerspricht) und reicht bis hin zu den minimalistischen, mit Lineal erarbeiteten Grafiken der Amerikanerin Agnes Martin, die 1973 mit „On a clear day“ auf 30 Blättern den Variantenreichtum der Rechteckform auslotete. Hierauf antworte Renate Krammer 2015 mit der Serie „On a silent day“, wo sie Martins Sujets umkehrte, d. h. die Blätter mit Linien füllte und die Rechteckformen durch Aussparungen – Leerstellen in der Linie – hervorrief.

„Mit ihren graphischen ‚Meditationen‘ gibt uns die Künstlerin die Möglichkeit einer ästhetischen Empfindung, die frei ist von spezifischen Bedeutungszuweisungen“, schreibt Erwin Fiala anlässlich der Ausstellung „On a silent day“ in Hartberg. Die Empfindung der Betrachters trifft sich dabei mit dem schöpferischen Erleben der Künstlerin, die richtiggehend im Zeichnen aufgeht. „Musikhören neben dem Zeichnen ist möglich, aber der Fokus auf die Linie muss da sein“, sagt Krammer. Dabei sei eine freischwebende Konzentration nötig, um im Hier und Jetzt zu bleiben. „Sobald ich zu überlegen beginne: ‚Wann wird das Bild fertig?‘, muss ich aufhören, denn dann wird es nichts mehr.“

Der Variantenreichtum des Materials

Renate Krammer ist ihrer Linie seit Jahren treu, auch wenn sich die Umsetzung immer wieder leicht ändert: Linien auf schwarzem Papier – mit Bleistift, aber auch mit Acrylmarker gezogen – sind ebenso Varianten des unerschöpflichen Themas wie gravierte durchsichtige Acrylplatten, die Krammer versetzt übereinanderlegt, damit die Linien räumliche Tiefenstrukturen erzeugen. Daneben zählen Radierungen und Variationen mit Farbstiften und gewebtem Kupferdraht, Rauminstallationen (bei denen ausnahmsweise die Vertikale dominiert), fotografische Arbeiten und Videos zum Oeuvre der in Kumberg bei Graz lebenden Künstlerin. „Renate Krammer hat mit Bleistift und Papier ein nahezu unendliches Universum geschaffen, kaum eine Möglichkeit der Varianz scheint sie ausgelassen zu haben“, schreibt Günther Holler-Schuster, Kurator der Neuen Galerie Graz, im Werkkatalog „Lines“ (2019).

Seit einigen Jahren experimentiert Krammer damit, Spezialpapiere in ca. sechs Zentimeter breite Streifen zu schneiden, dann der Länge nach in der Mitte auseinanderzureißen und die so entstandenen Papierstreifen mit den fasrigen Risskanten nach oben in dichten Linien auf Zeichenpapiere oder in offene Plexiglaswürfel zu kleben, wobei sie die Risskanten fallweise mit Acrylmarker hervorhebt. Die Linienbilder, die dabei entstehen, sind im Zwischenbereich von Grafik und Objekt anzuordnen. Durch die Spezialpapiere – zuerst war es langfaseriges Japanpapier, mittlerweile arbeitet Krammer hauptsächlich mit grobfaserigem australischem Papier aus Maulbeerbaumholz – wohnt den Texturen dieser Werke eine textile Komponente inne.

Gerissene Linien

Mit den Bildern und Objekten aus gerissenen Papierlinien reüssiert Krammer auch international. 2017 waren während der Biennale ihre Arbeiten aus Seidenpapier im Palazzo Mora in Venedig zu sehen. Und Ende Mai 2020 werden, wenn die Corona-Krise es zulässt, Arbeiten von Renate Krammer auf der international renommierten Messe „Art Paris“ präsentiert. Der Name der Zürcher Galerie, die ihre Arbeiten zeigen wird, verpflichtet: La Ligne.

Hier geht’s zur Homepage von Renate Krammer: http://www.renate-krammer.at/

Der Beitrag wurde im Februar 2020 für die Online-Porträtreihe ARTfaces der Kulturabteilung des Landes Steiermark verfasst.

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