Ist Gendern zwangsneurotisch?

Alexander Somek ist Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Wien. 2021 hat er unter dem Titel „Moral als Bosheit“ eine Sammlung von acht rechtsphilosophischen Essays veröffentlicht, die sich mit den Auswirkungen der Identitätspolitik auf die Universitäten und das Rechtswesen beschäftigen. Den Auftakt bildet eine lesenswerte Studie über die „gendergerechte Sprache“.

Somek sieht sich von seiner Biografie her als Kind des Roten Wien und betont dies, um der Gefahr zu entgehen, ins rechte Eck gestellt zu werden. In seinem Buch „Moral als Bosheit“ wirft er einen äußerst kritischen Blick auf die Strömungen der Neuen Linken, die Identitätskonzepte als politisch handlungsleitend sehen und dabei auf die Kernfrage der klassischen Linken, die soziale Frage, weitgehend vergessen: „Man steht allein da und muss für sich allein kämpfen. Die wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft gilt als vorgegeben und unantastbar. Die eigentliche politische Herausforderung wird darin gesehen, sie ‚inklusiver‘ zu machen durch die Verbesserung von Chancengleichheit und den Abbau von Ausgrenzungen […]“, heißt es im Vorwort des Buches.

„Alle Chef_innen sind Arschlöcher“

Im ersten Aufsatz des Sammelbandes, einem „Versuch über das Gendern“ mit dem schönen Titel „Alle Chef_innen sind Arschlöcher“, fasst der Rechtsgelehrte die Problematik des Sprachgenderns auf knappe, aber äußerst treffende Weise zusammen. Denn er verknüpft die sprachliche Analyse mit der gesellschaftspolitischen Einschätzung, wonach neoliberales Denken die soziale Frage ausgehöhlt hat. Zu Beginn des Essays betrachtet Somek die linguistische Diskussion und erkennt, dass Pro- und Contra-Fraktion des Genderns „auf eine philosophisch interessante Weise aneinander vorbeireden“: „Während die Verfechter des generischen Maskulinums von der Bedeutung reden, verweist die feministische Kritik auf das, was wir vermöge der Einbildungskraft zu Gesicht bekommen.“ Dieser Fokus ist laut Somek „mit dem Anliegen konsistent, dass durch Gendern Sichtbarkeit geschaffen oder verändert werden soll.“ – Nur, und das ist der Haken an der Sache: „Das Gendern ist selbstreferentiell. Es macht das Sichtbarmachen sichtbar, nicht das Sichtbarzumachende. Wenn ich ‚Chirurg*innen‘ lese, dann sehe ich keine Transgenderpersonen – und das nicht nur deswegen, weil ich kein Stereotyp dafür ‚im Kopf‘ habe, denn ich sehe auch weder Männer noch Frauen. Ich sehe das Sternchen.“

Someks Fazit: Die „soft law Standards” des Genderns erweisen sich als irrational, denn der Anspruch, alle Geschlechter „sichtbar“ zu machen, geht nicht auf. Und der Einwand des Rechtsphilosophen lautet: „Irrationales Recht widerspricht dem Ethos einer freien Gesellschaft. Es ist freien Menschen nicht zuzumuten, Einschränkungen ihrer Freiheit in Kauf zu nehmen, wenn diese in keinem plausiblen Zusammenhang mit der Erreichung eines öffentlichen Interesses stehen.“

Warum nur gendern? Warum nicht auch „ethnen“?

Dazu kommt ein weiterer Punkt, den der Rechtsphilosoph in seiner Studie ausrollt: Warum soll nur das Geschlecht in der Sprache „sichtbar“ gemacht werden, warum nicht auch die Ethnie? Schließlich spreche die Stimme, die man beim Lesen eines Satzes in sich höre, akzentfreies Deutsch. „Damit verdeckt das Lesen des Textes die in unserer Gesellschaft lebende wachsende Anzahl von Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache, sondern als Fremdsprache gebrauchen“, so Somek. Daher müsste, wer Texte gendert, eigentlich auch dafür eintreten, Texte ebenso zu „ethnen“ – also die Menschen mit nicht deutscher Muttersprache darin kenntlich zu machen, zum Beispiel mit einem vorangestellten Sternchen bei Personenbezeichnungen. Das würde dann zu *Chirurg*innen führen. „Man mag den Vorschlag des ‚Ethnens‘ für einen schlechten Scherz halten“, schreibt Somek. „Das ist er auch.“ – Aber es handelt sich um einen erhellenden Scherz, denn der Autor zeigt dadurch auf, wie willkürlich die Forderung ist, das Identitätskonzept „Gender“ in sprachlichen Äußerungen durch eine „geschlechtergerechte“ Sprache sichtbar zu machen. Zumal – Anmerkung am Rande – mehrere jüngere linguistische Studien untermauern, dass die Genderfraktion einem Irrtum aufsitzt, wenn sie grammatische Geschlechter primär als Abbild von biologischen Kategorien oder Gender-Zuschreibungen sieht.

Da keine Fehlleistung der Sprache vorliegt, ist es auch unmöglich, die vermeintliche Ungerechtigkeit zu tilgen. Und damit sind wir beim nächsten Problem: „Offenbar ist es nicht ganz einfach, Sprachmaßnahmen zu finden, welche die Inklusion verbürgen, ohne unendlichen Verbesserungsbedarf hervorzurufen“, resümiert der Autor. Er zählt die bisherigen Lösungsansätze der Reihe nach auf: den Unterstrich „_“, den Querstrich „/“, das Binnen-I und den Gender-Stern*. Seit er seinen Text verfasst hat, ist zu dieser Reihe noch der Gender-Doppelpunkt: in immer mehr Schriftstücken dazugekommen. „Am Zwang zur Permutation und zur Perfektion manifestiert sich, dass es sich beim Gendern um eine affektiv stark besetzte Angelegenheit handelt“, attestiert der Philosoph. „Wer beim Schreiben ‚gendert‘, der kann sich in der Gewissheit wiegen, zur Verbesserung der Welt einen bescheidenen Beitrag geleistet zu haben.“ – Allerdings auf höchst individueller Ebene, denn das Gendern als Praxis entspreche dem neoliberalen Trend, das Politische in Privatsphären zu verlagern und im Gegenzug das Private zu politisieren: den Menschen als geschlechtliches Wesen.

Lippenbekenntnis zur Gleichheit

Um die Frage zu beantworten, woher an Universitäten und in Behörden und Medien der Drang zum Gendern als „konformistischer Haltungsbekundung“ kommt, greift Somek auf Sigmund Freuds Beschreibung der Zwangsneurose zurück. Diese vermittelt zwischen einer Triebregung und ihrer Unterdrückung. Somek: „Die Nötigung zum Gendern entspricht einem Zwang, der einen Konflikt ‚löst‘, der in ‚spätmodernen‘ Gesellschaften endemisch ist. Es ist dies der Konflikt zwischen dem Narzissmus der Erfolgreichen und deren Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen.“ Der Rechtsphilosoph erkennt darin einen der Grundkonflikte in der westlichen Welt: Sie ist geprägt von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, denen sich der politische Handlungswille allzu unterwürfig unterordnet. Es geht schließlich um die Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb. Das Ergebnis sind wachsende gesellschaftliche Ungleichheiten und Verwerfungen, die zu größerer Ungleichheit führen. Gendern ist für Somek ein Symptom dieser Bedingungen. Er schreibt: „Symptome lösen Probleme, indem sie diese nicht lösen. […] Durch den isolierenden Fokus aufs Geschlecht werden Klassengegensätze zum Verschwinden gebracht.“ Bonuseffekt für die Genderbefürworter: Sie können „die Unterklasse weiterhin ignorieren und sich insgeheim oder offen über ihren Bildungsmangel oder Rechtsradikalismus mokkieren.“ – Daher auch die reflexhafte Zuschreibung als Reaktionär, wenn man das Gendern als unsinnige Zumutung betrachtet: Es ist eine Abwehrreaktion aus der zwangsneurotischen Haltung heraus.

Inklusion und soziale Ungleichheit

Gendern, schreibt Alexander Somek, „erweist sich damit als Bestandteil der Zivilreligion einer liberalen Gesellschaft, die sich zur Gleichheit bekennt, solange diese nichts kostet, keine Umverteilung einschließt und die Hierarchie der Arbeitsorganisation nicht antastet.“ Den Gedanken, dass Gendern und andere Symbolhandlungen der politischen Korrektheit in Wahrheit die Kehrseite einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung sind, führt Somek dann im letzten Essay seines Buches „Moral als Bosheit“ weiter aus. Dieser Aufsatz trägt den Titel „Das Vergessen der sozialen Frage“. Die Phänomene, die der Jurist darin beschreibt, kennt er aus eigener Anschauung, denn er hat viele Jahre an US-amerikanischen Universitäten gelehrt, bevor er nach Europa zurückgekehrt ist. Somek hält also fest: „Die klassische liberale Perspektive ist vollständig kompatibel mit einer Gesellschaft, die auf das Inklusionsparadigma setzt. Das ist alles andere als fiktiv. Die Feier von ‚diversity‘ und die Revolte gegen ‚class ceilings‘ steht nicht im Widerspruch dazu, wenigstens ein Drittel der Bevölkerung unterhalb des Niveaus der Mittelklasse absinken zu lassen. Die Kompatibilität von Inklusion und reiner sozialer Ungleichheit ist in den USA schon zur gelebten Praxis geronnen.“

Fazit: Nichts ist billiger für Unternehmen und Institutionen, als Genderzeichen zu verwenden und die Regenbogenfahne zu hissen, wenn es opportun erscheint. Es ändert nichts an der sich weiter öffnenden Einkommensschere, die die tatsächlichen Ungerechtigkeiten bewirkt, aber es erzeugt ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

Alexander Somek: Moral als Bosheit. Rechtsphilosophische Studien. Mohr Siebeck: Tübingen 2021. 204 Seiten

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