Was unter der Oberfläche ist

„Ich mag keine Oberflächen. Ich will wissen, was unter der Oberfläche ist“, sagt die Grazer Autorin Claudia Sammer auf die Frage, warum die Psychologie der Figuren in ihren Büchern so zentral ist. Nach den Romanen „Ein zögerndes Blau“ (2018) und „Als hätten sie Land betreten“ (2020) arbeitet sie nun an einem Text, der bei den Terroranschlägen von 9/11 anknüpft, dessen Augenzeugin sie war.

Claudia Sammer ist in Graz aufgewachsen. Bereits im Gymnasium hatte sie ein Faible für Sprachen, dem sie zunächst aber nicht nachging. Nach einem „Vernunftstudium“ der Rechtswissenschaften in Graz, der Arbeit als Konzipientin in Wien und einem Master in Wirtschaftswissenschaften, den sie während eines einjährigen Aufenthaltes in Mailand erwarb, war sie als Unternehmensjuristin in Graz tätig. „Irgendwann war das nicht mehr stimmig für mich, und ich habe mich neu orientiert“, erklärt sie, warum sie ein zweijähriges Fernstudium zum literarischen Schreiben aufnahm.

Von Woolf bis Nadás

Literatur spielte in Claudia Sammers Leben schon immer eine wichtige Rolle, wobei es vor allem literarisch anspruchsvolle Werke sind, bei denen die Autorin Inspiration findet. Den Kapiteln ihres zweiten Romans „Als hätten sie Land betreten“ sind Zitate aus Büchern von Virginia Woolf, Péter Nadás und Florjan Lipuš vorangestellt. Insbesondere Nadás‘ Mammutwerk „Parallelgeschichten“ mit seiner Fülle an poetischer Weisheit hat es Sammer angetan. Schon vor ihrem Studium des literarischen Schreibens bezog die Autorin prägende Impulse aus den Literaturessays des russisch-amerikanischen Dichters Joseph Brodsky. Ein paar der Gedichte, die sie unter diesem Eindruck schrieb, wurden in Anthologien in Deutschland veröffentlicht.

Der Verlust der Identität

Im Zuge des Fernstudiums schrieb Sammer ihren ersten längeren Prosatext, aus dem schließlich der Roman „Ein zögerndes Blau“ hervorging. Das Buch zeichnet in kurzen Kapiteln die Geschichte zweier Menschen nach, die als Kinder während der letzten Kriegstage von ihren Eltern getrennt und in der Fremde aufgenommen wurden. Der geschichtliche Hintergrund – die sogenannten „Wolfskinder“ Ostpreußens, die im Chaos des deutschen Rückzugs anno 1945 von ihren Familien getrennt wurden und im Baltikum aufwuchsen – diente der Autorin als Folie für eine psychologische Erzählung über Entwurzelung und Heimatlosigkeit, die die Figuren ihr ganzes Leben prägt. „Wie grundlegend der Verlust von Familie, Heimat und Identität einen Menschen kaputt machen kann; wie schwer es ist, ein zweites Leben zu beginnen – das sind angesichts der unzähligen Krisenherde auf der Welt dringende Themen, mit denen sich Claudia Sammer tiefgründig auseinandergesetzt hat,“ merkte dazu die Rezensentin Theresa Hübner im deutschen Kultursender SWR2 an.

Sechs Frauenleben

Noch vielschichtiger nimmt sich Claudia Sammers zweiter Roman, „Als hätten sie Land betreten“ seiner Themen an. Kristallisationskern der Geschichte, die drei Frauengenerationen überspannt, ist die jugendliche Liebe zwischen Veza und Lotti in den 1930er-Jahren. Veza flieht vor ihrem aussichtlosen Verlangen ins Kloster, wird aber als gebürtige Jüdin 1944 im KZ ermordet. Lotti, die zeitlebens um ihren Lebensmenschen trauert, wahrt den Schein und heiratet. Die geheime Liebe zur Freundin sublimiert sie in künstlerischen Zeichnungen, die sie vor ihrer Familie verbirgt und erst nach dem Tod ihrer Enkelin zugänglich macht, ebenso wie die Briefe, die sie mit Veza gewechselt hat. In Sammers Buch, das aus sechs verschiedenen Perspektiven um die Lebensentwürfe von sechs Frauen kreist, kommen neben der Hauptfigur Lotti und den Briefen Vezas auch Lottis Tante Alma zu Wort, ihre Tochter Luna, ihre Enkelin Alma sowie Dorothea, die Mitschwester aus dem Karmelitinnen-Kloster, in dem Veza Zuflucht suchte.

„Sammer gelingt es kraft ihrer klaren, unaufgeregten Sprache, diesen Frauen eindringliche Stimmen zu geben und ihre Ängste, Nöte, Wünsche und Träume plastisch und nachvollziehbar zu
machen. Freiheitsbedürfnisse, Gefühlsstürme und Glaubenszweifel beschreibt sie so kunstvoll wie empathisch, so schonungslos wie intensiv“, schreibt Veronika Hofeneder in ihrer Besprechung des Buches für das Literaturhaus Wien. Und sie resümiert: „Neben einer berührenden Erzählung über eine ganz besondere Freundschaft ist Sammer mit ‚Als hätten sie Land betreten‘ auch ein spannender Roman über die Vielschichtigkeit weiblicher Lebenswelten gelungen.“

20 Jahre nach 9/11

Die beiden ersten Romane von Claudia Sammer sind zwar nicht autobiographisch, aber im literarischen Ton und im psychologischen Zugang sehr persönlich. Aus ihnen spricht eine große Empathie für die seelischen Nöte und die Einschränkungen, denen vor allem die Frauenfiguren unterworfen sind. In ihrem neuen Romanprojekt greift die Autorin nun erstmals autobiographische Erlebnisse auf, denn sie war Augenzeugin des Terroranschlages vom 11.9.2001 auf New York. „Wir waren in unserem Hotel in der 20. Straße, und ich dachte: ‚Wie kann das sein, dass mitten in New York ein Flugzeug so laut ist?!‘“, erinnert sich Sammer an den Augenblick, als das erste Flugzeug auf das World Trade Center zuflog. 20 Jahre ist der große Terroranschlag nun her, und 20 Jahre ist auch der Zeitraum, den das neue Werk überspannt. Die Ereignisse und Eindrücke von damals beschäftigen Sammer bis heute. Die Arbeit am neuen Buch sei schon weit gediehen, sagt sie. Dass auch dieser Roman wieder vielschichtig, intensiv und sprachlich ausgereift ausfällt, davon darf man bei dieser Autorin schon jetzt ausgehen.

Bücher:

  • Claudia Sammer: Ein zögerndes Blau. Roman. Braumüller: Wien 2018. 177 Seiten.
  • Claudia Sammer: Als hätten sie Land betreten. Roman. Braumüller: Wien 2020. 174 Seiten.

Das Porträt ist im Februar 2021 in der Online-Galerie ARTfaces des Landes Steiermark erschienen.

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